Das 2004 von der Berliner Akademie der Künste veranstaltete, interdisziplinäre Symposion mit dem Titel "Topos Raum" hatte sich zum Ziel gesetzt, dem Wandel des Raumbegriffs im 20.Jahrhundert nachzugehen. Es fragte nach der historischen Bedeutung einer zentralen Kategorie der Moderne und deren anhaltender Relevanz für die Gegenwart. Im Mittelpunkt des Interesses stand die Reaktion der Künste auf die Verzeitlichung und Pluralisierung von Raumkonzeptionen.
Der Tagungsband fasst die Beiträge der beteiligten Wissenschaftler und Künstler zusammen und ergänzt sie durch Aufsätze einiger Respondenten sowie einzelne, bereits an anderer Stelle publizierte Texte zum Thema.
Vor dem Hintergrund der Technisierung und Beschleunigung im 20. Jahrhundert sowie des umwälzenden Verlusts von Ortsgebundenheit durch politische Systeme, Kriege und wirtschaftliche Prozesse stehen in den versammelten Texten reale Räume ebenso zur Debatte wie manipulierte, simulierte und virtuelle. Das Buch ist in sechs Kapitel gegliedert, die dem weit gefassten Thema anhand signifikanter Teilaspekte Profil verleihen.
Das Kapitel "Die Erfindung und Wiedererfindung des Raumes" geht dem Raum als fortwährender Gestaltungsaufgabe in bildender Kunst und Architektur nach. Die Beiträge erörtern nicht nur Raumerfahrungen in der bildenden Kunst, sondern problematisieren auch die Präsentation raumgreifender, teils ortsspezifischer und temporärer zeitgenössischer Kunst und Architektur.
Die Sektion "Die Privatisierung des öffentlichen Raums" befasst sich mit einem ökonomisch bedingten Phänomen, das die Nutzungsvielfalt öffentlicher Räume zunehmend einengt und zugleich zu ausgeprägter sozialer Ausgrenzung führt. Bei aller Prägnanz im Hinblick auf die analysierten Beispiele sind die Beiträge etwas redundant, da sie sich im Wesentlichen auf zwei Bereiche der privaten Aneignung und Simulation von öffentlichem Raum beschränken - US-amerikanische Privatstädte und Shoppingmalls. Einzig der Beitrag von Harun Farocki bezieht auch europäische Beispiele mit ein. Ansonsten bleibt das im Kapitelvorspann entworfene antagonistische Verhältnis US-amerikanischer und europäischer Stadträume unbefragt.
Der "Fiktive Räume in Literatur, Film und Environment" überschriebene Abschnitt versammelt Betrachtungen künstlerischer Verfahren der Überlagerungen von realen Raumerfahrungen und fiktionalen Raumentwürfen. Vorgestellt werden situationistische Handlungsentwürfe im Stadtraum der 1960er-Jahre und die Praxis des Mappings in den seit dem 17.Jahrhundert geläufigen Varianten emotionaler Topografien. Untersuchungen der Darstellungsweise und Bedeutung des Motivs der Bewegung in Literatur, Film und Musikvideo schließen sich an.
Das Kapitel "Immaterielle Räume in Musik und Theater" widmet sich Stationen einer in Inszenierungs- und Aufführungspraxis zu verzeichnenden Umkehrbewegung, die mit der Ausweitung des Spielraumes, d. h. dem Überschreiten der tradierten Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum in den 1950er-Jahren ihren Ausgang nahm. und heute in eine programmatische Reduktion visueller und akustischer Eindrücke mündet. Die drei Aufsätze zur Musik untersuchen die Relation von Raum und Zeit in der Komposition, reflektieren über das Verhältnis von Resonanzraum und Leere und stellen einem physikalischen Bewegungsverständnis die Wahrnehmung von Zeitphänomenen in der Musik gegenüber. Ausgehend von der Leerstelle im Nouveau Roman erklärt der folgende Beitrag den Zuschauer zum Ort der (Schauspiel)kunst.
Die Themen der Abteilung "Zwischen-Raum und Un-Raum" sind die wohl heterogensten - sie reichen von ideologischen Setzungen in der sowjetrussischen Landeskunde über Installationskunst, Haut als Schnittstelle in Kunst, Design und Architektur sowie utopischen Architekturfantasien bis hin zur Dynamik der Überlagerung physischen Raumes mit Information. Trotz dieser enormen Spannweite wird das einende Interesse an einer Raumerschließung durch das 'Dazwischen' von Außen und Innen klar ersichtlich. Der Zusammenschluss disparater, sich jedoch gegenseitig erhellender Teile zu einem Ganzen ist hier besonders gelungen.
In der Einleitung zum Kapitel "Topos/Utopos oder der Traum vom Raum" kommt erstmals die inhaltliche Wechselbeziehung von 'Raum' und 'Ort' zur Sprache. Die anschließende Sektion erweitert ihren Untersuchungsrahmen vom Interieur in der bildenden Kunst und dem Entwurf des Hauses der Zukunft in den 1950er-Jahren bis zu dem weltumspannenden - von Künstlern und Ausstellungsmachern betriebenen Projekt einer "Utopia Station".
Kurt W. Forsters Reflektion über "Schwellen und Schleusen" fällt irritierend aus dem Gefüge des Kapitels heraus - hätte man sie doch eher im Abschnitt "Zwischen-Raum und Un-Raum" erwartet. Auch leuchtet es nicht unmittelbar ein, warum Georges Didi-Hubermans Aufsatz über den "tanzenden Raum" in den Fotografien Man Rays und Gottfried Boehms Beitrag zum Wandel des Verhältnisses von Skulptur und Raum seit dem 18. Jahrhundert dem Band als Aufmacher vorangestellt wurden. Da diese Texte die Fragestellung an spezifischen Phänomenen verhandeln, die in beiden Fällen aus dem Bereich der bildenden Kunst stammen, hätten die Aufsätze ebenso gut in die Kapitelstruktur eingegliedert werden können. Gert Mattenklotts Text zum 'Topos Raum' in der Literatur, der dem Kapitel "Fiktive Räume" zugeordnet ist, hätte dem Leser hingegen den Einstieg in die Lektüre des Sammelbandes erleichtern können. Sehr schlüssig ist wiederum, dass Peter Sloterdijk am Ende der vielfältigen Einzelbetrachtungen die Perspektive noch einmal weitet hin zur Herausforderung aller Kreativen durch ein "Wachstum der Horizonte" (436).
Der Sammelband gibt erhellend Einblick in ein weites Spektrum von Entwürfen des Topos Raum in den verschiedenen Kunstgattungen. Allerdings sind gerade auf Grund der angestrebten Bandbreite notwendigerweise auch Desiderate zu verzeichnen. So bleiben beispielsweise Prozesse rhizomatischen Wucherns, wie sie in der zeitgenössischen Kunst und Architektur(theorie) verhandelt werden, ebenso unberücksichtigt wie die Herausforderung westlicher Industrienationen durch ihre schrumpfenden Städte. Auch die auffällige Faszination, die marginalisierte Stadträume auf die zeitgenössische Fotografie oder Künstlerkartografie ausüben, wird nicht thematisiert. Weiterhin bleibt die recht unausgewogene Repräsentation der einzelnen Kunstgattungen von den Herausgebern unkommentiert. Vor allem jedoch wäre eine Öffnung des Blicks über die Entwicklungen in den USA und Europa hinaus wünschenswert gewesen.
Begrüßenswert ist, dass die in der jeweiligen Sektion des Bandes diskutierten Problemstellungen in Form von aussagekräftigen Einzelstudien konkretisiert und damit anschaulich werden. Allerdings bleiben die einzelnen Texte - wie bei einem so ehrgeizigen Vorhaben nicht zu vermeiden - gelegentlich etwas zu schlaglichtartig dem Detail verhaftet. Hier hätte es einer noch stärkeren Verknüpfung in den Kapitelvorspännen bedurft. Sie hätte die von den Herausgebern erhofften Synergieeffekte herausstreichen, beziehungsweise verstärken können. Diese werden insbesondere im Kapitel "Zwischen-Raum und Un-Raum" wirksam, in dem sich disparate Beiträge aus verschiedensten Disziplinen tatsächlich zu der im Vorspann konstatierten "Ästhetik des Dazwischen" (279) verdichten. Allerdings muss sich der Leser im gesamten Band im synergetischen Raum zwischen den Texten die Wechselwirkung der diagnostizierten sozio-ökonomischen Prozesse mit den Künsten erschließen. Eine stärkere Akzentuierung dieser Aspekte innerhalb der Aufsätze hätte eine noch ertragreichere Annäherung an den 'Topos Raum' befördert. Insgesamt ist der Tagungsband ein anregendes Kompendium, dem es gelingt, den Wandel der Raumkonzepte als ein Problem von anhaltender Relevanz aus unterschiedlichsten Perspektiven zu beleuchten.
Angela Lammert / Michael Diers / Robert Kudielka / Gert Mattenklott (Hgg.): Topos Raum. Die Aktualität des Raumes in den Künsten der Gegenwart, Nürnberg: Verl. für Moderne Kunst 2005, 457 S., ISBN 978-3-938821-07-7, EUR 29,00
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