Die zu Beginn des 20. Jahrhunderts initiierte historisch-kritische Leibniz-Edition zählt seit Jahrzehnten zu den Flaggschiffen des Editionswesens im deutschsprachigen Raum, und es ist jedesmal eine Freude, einen neuen Band der Ausgabe in den Händen zu halten. Erschienen ist im vergangenen Herbst Band 18 der Reihe des allgemeinen und historischen Briefwechsels, der die Korrespondenz zwischen Januar und August 1700 umfasst. Dass die Bände trotz der hohen Zahl von fast 1000 Seiten jetzt nur noch ein gutes halbes Jahr abzudecken vermögen, belegt den enormen Umfang, den Leibniz' Briefwechsel in dieser Zeit erreicht hat; sein Korrespondenznetz besitzt um 1700 die größte Ausweitung. Aus den acht Monaten, die der vorliegende Band berücksichtigt, sind 483 Briefe von und an Leibniz überliefert, davon wurden 366 Stücke erstmals veröffentlicht. Der Band belegt damit erneut, dass die Leibniz-Ausgabe in erster Linie bisher unbekannte Materialien erschließt, also keine Zusammenfassung mehr oder weniger bereits geläufiger Texte darstellt. Bedauerlich, aber von den Bearbeitern nicht zu verantworten, ist die Tatsache, dass durch die zu Beginn des Unternehmens vorgenommene unglückliche Aufsplitterung der Briefedition in drei Reihen (allgemeiner, philosophischer, naturwissenschaftlicher Briefwechsel) der Benutzer des Bandes noch nicht das Briefmaterial bis August 1700 vollständig in den Händen hält, denn die anderen beiden Reihen liegen zeitlich noch zurück, vor allem der philosophische Briefwechsel (bei 1685). Die Herausgabe der naturwissenschaftlichen Korrespondenz hat immerhin den Juni 1696 erreicht.
Die Gliederung des Bandes folgt dem seit Jahrzehnten eingespielten Muster: Am Beginn steht die Korrespondenz mit Angehörigen und Bediensteten des Hauses Braunschweig-Lüneburg. Es folgt der "allgemeine und gelehrte Briefwechsel". Den Schlussteil bilden fünf Register (Korrespondenten, Absendeorte, Personen, Schriften, Sachen), die insgesamt 100 Seiten umfassen und, wie immer, mustergültig sind. Inhaltlich besitzt der Band, vielleicht deutlicher als manche vorangegangene, einige unübersehbare Schwerpunkte. So beschäftigt Leibniz, der sich in der hier berücksichtigten Zeit hauptsächlich in Berlin aufhält, das alte Thema der Religionsverhandlungen nochmals intensiv, und zwar im Kontakt mit dem französischen Hofprediger Jacques-Bénigne Bossuet, was die Reunion mit der katholischen Kirche angeht, und mit Daniel Ernst Jablonski und Gerhard Wolter Molanus, was die Union mit den Reformierten betrifft. Das Jahr 1700 ist vor allem das Jahr der Gründung der Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, an der Leibniz nicht den alleinigen, aber doch einen hervorragenden Einfluss hatte. Mehrere der in diesem Zusammenhang wichtigen Schreiben, die freilich schon länger bekannt sind, werden hier abgedruckt und können und müssen künftig nach der Akademie-Ausgabe der Werke Leibniz' benutzt werden. 1700 erfolgt schließlich auch die Annahme des Gregorianischen Kalenders durch die protestantischen Reichsstände, was intensive Diskussionen um das Prozedere der Kalenderumstellung nach sich zieht, die sich teilweise mit der Berliner Akademiegründung verknüpfen. In der großen europäischen Politik bahnen sich 1700 schließlich die beiden Großkonflikte an, die in den nächsten zwei Jahrzehnten Europa erschüttern werden - der Spanische Erbfolgekrieg und der Große Nordische Krieg. Beide Entwicklungen bilden einen Gegenstand in der Korrespondenz von Leibniz, der sich sein Leben lang (mit geringem Erfolg) bemühte, im politischen Leben eine Rolle spielen zu können. Die Lektüre des Briefbandes, so lässt sich zusammenfassend formulieren, führt in höchst lebendiger Weise in eine Vielzahl der um 1700 die Aufmerksamkeit auf sich ziehenden Themen inner- und außerhalb der Gelehrtenrepublik ein.
Was die Editionsprinzipien angeht, möchte der Rezensent auf seine grundsätzlichen, z.T. kritischen Erwägungen in der Besprechung des 5. Bandes der Reihe 4 (politische Schriften) der Ausgabe verweisen (vgl. sehepunkte 5 [2005], Nr. 5). Sie gelten teilweise auch für den vorliegenden Band. Dennoch soll die Zusammenstellung einiger Beispiele nochmals das besonders zentrale Problem der hinreichenden Kommentierung der Texte, das in Briefausgaben wohl eine noch größere Bedeutung besitzt, ins Bewusstsein rufen. Trotz des hohen Niveaus auf dem sich die Leibniz-Ausgabe bewegt, sind doch nach Auffassung des Rezensenten Verbesserungen zumindest erwägenswert.
Die in den Briefen erwähnten Personen werden im Kommentar oft nicht näher charakterisiert. Der Leser muss das Personenregister zur Hilfe ziehen, erfährt aber dort in der Regel nicht mehr als den Vornamen und das Todesjahr der betreffenden Person, z.B: Niemeyer, Weise (8), Dannenberg (36), Reiher, Schelhammer, Meyer (alle 246), Sike (250), Dureus (255), Schätz (277), Jurieu und Mayer (321), Dalmata (352), Block (362), Rabener (419), Fecht (500) usw. Wer mehr erfahren möchte, der muss sich selbst in die nur von Spezialisten überblickbare Welt der Nachschlagewerke begeben. Die vollständigen Lebensdaten und ein Hinweis auf den Wirkungsbereich der genannten Personen sollten möglich sein. Eine Reihe von Namen wird überdies gar nicht berücksichtigt. Auch hier wieder nur ein Beispiel: Wenn berichtet wird, "Posidon." erkläre in Athenaios "Deipnosophistai" dies und das über die Germanen (365), müsste der Name aufgelöst (der Stoiker Poseidonius von Apameia) und in das Register gesetzt werden.
Über die Notwendigkeit dieser oder jener Sacherläuterung lässt sich oft trefflich streiten. Bei einer ganzen Reihe von Fällen hätte nach Auffassung des Rezensenten der Leser allerdings doch den berechtigten Anspruch auf eine Erklärung, z.B.: "plusieurs pieces sur les affaires de Pologne" (4), Quartadecimanorum (19), "l'aigle qui est dans les sigilles d'Anhalt" (201), "Montanistes", "Novatiens", "Donatistes" (alle 233), "die handlung zwischen ChurPfalz und der Frau Herzogin von Orleans" (247). Warum trägt die katholische Kirche nach dem Frieden von Rijswijk den Kamm (cristas) höher (264)? Welche Professoren wurden nach Rinteln berufen (268)? Warum war der Weißenfelser Hof für die Besetzung von Lehrstühlen in Leipzig zuständig (291)? Warum war Adam Rechenberg in die pietistischen Streitigkeiten verwickelt (291)? Was versteht man unter "Savery machine" (337)? Zahlreiche medizinische Begriffe und Sachverhalte auf Seite 366 dürften doch kaum geläufig sein. Auf Seite 413 hätte die erwähnte (1640 abgehaltene) Leipziger Feier der Erfindung des Buchdruckes erläutert werden können. Um was handelt es sich bei den Streitigkeiten zwischen den Leipziger Theologen (651)? Was beinhaltet der Vertrag zwischen Frankreich, Holland und England über die Teilung des spanischen Reichs (805)? Vor allem die ausführlichen Darlegungen zu theologischen Fragen in den Briefen, die das Verhältnis der Konfessionen zueinander betreffen, fordern vom Leser ein beträchtliches Maß an Wissen über Sachverhalte, die auch dem historisch Gebildeten heute kaum geläufig sind. Besonders oft liegt der Fall vor, dass in den Texten auf zeitgenössische, nicht selten entlegene Texte Bezug genommen wird. Der Kommentar bzw. das Schriftenverzeichnis geben wohl einen bibliographischen Nachweis; was jedoch in jenen Büchern bzw. in den gemeinten genaueren Textstellen gesagt wird, erfährt man nicht, d.h. man steht nicht selten vor einem Rätsel (Beispiel: Was hat der Kardinal du Perron in seiner 1615 erschienenen Schrift "Harangue" behauptet, was heute nicht mehr der Standpunkt der französischen Kirche ist? (632).
Einige Fehler in der Kommentierung, die bei einem so komplizierten Werk kaum zu vermeiden sind, seien hier angemerkt: Mit dem Kolloquium, an dem Bucer und Luther teilnahmen, ist sicher das Marburger Religionsgespräch (1529) gemeint, und nicht die Wittenberger Konkordie von 1536. Mit dem "livre posthume" Pufendorfs, in dem dieser gegen die Prädestinationslehre der Reformierten polemisiert, ist nicht seine Biographie des Großen Kürfürsten gemeint, sondern die theologische Spätschrift "Jus feciale" (646). Die Erklärung des Monotheletismus auf Seite 633 erweckt den Eindruck, dieser sei eine allgemein anerkannte Kirchenlehre gewesen, die zugunsten eines neuen Glaubenssatzes (zwei Willen in Christus) 680/81 aufgehoben wurde. Es handelt sich jedoch um eine Sonderlehre, die erst im 6. Jahrhundert aufkam und nur von Teilen der Ostkirche akzeptiert wurde. Bei der nicht ermittelten Moskauer Chronik (358) handelt es sich um die in verschiedenen Fassungen überlieferte berühmte Nestorchronik. Da diese Mängel alle im Bereich der Theologie und Kirchengeschichte angesiedelt sind, wäre es vielleicht ratsam, künftig den Kommentar durch einen entsprechenden Fachgelehrten durchsehen zu lassen.
Gottfried Wilhelm Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe. Erste Reihe: Allgemeiner politischer und historischer Briefwechsel. Bd. 18: Januar-August 1700. Bearb. von Malte-Ludolf Babin, Marie-Luise Weber, Rita Widmaier, Berlin: Akademie Verlag 2005, LXI + 944 S., ISBN 978-3-05-003736-3, EUR 258,00
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