Nun hat die historische Milieuforschung also die Nachkriegszeit erreicht. Damit gerät die Phase in den Blick, die gemeinhin als Auflösungsphase der Milieus bezeichnet wird. Für das katholische Milieu gelten die Jahre zwischen etwa 1955 und 1968 als die Zeit, in der traditionelle Bindungen an die Kirche und von ihr getragene Institutionen und prägende Lebensweisen vom Pluralismus der unterschiedlichsten Lebensentwürfe abgelöst wurden. Diese Periode wird in der Studie von Christian Schmidtmann auch entsprechend benannt und geschildert. Neu ist, dass es nicht mehr unter den Kategorien des Milieudiskurses geschieht. Und das, obwohl die Bochumer Dissertation bei einem der Hauptprotagonisten der Diskussionen um das katholische Milieu geschrieben wurde, bei Wilhelm Damberg, der mit seiner vergleichenden Studie zum Bistum Münster und den Niederlanden eine klassische Anwendung des Milieuparadigmas auf die Auflösungsphase nach dem Zweiten Weltkrieg vorgelegt hatte. Schmidtmann kennt diese Diskussionen, führt sie aber weiter im Sinn einer konsequenten Historisierung und Einordnung in einen Elitediskurs, der in der Milieuforschung bisher lediglich für die geistliche Elite der Pfarrer durchgeführt wurde.
Gegenstand der Studie Schmidtmanns sind katholische Studierende. In einem dreifachen Zugriff gewinnt er seine Einsichten über sie: Zum einen geht er der institutionellen Entwicklung der Katholischen Deutschen Studenteneinigung (KDSE) als Dachorganisation nach. Aus ihren Akten erhält er "Auskunft über Selbstwahrnehmung und Handlungsorientierung" (29) der studentischen Verbände. Ein zweiter Zugriff geschieht über ausgewählte Hochschulgemeinden. Ihre Programme und Aktivitäten geben Hinweise auf die Reichweite in der katholischen Studierendenschaft. Der dritte Weg, den Schmidtmann einschlägt, ist der über lebensgeschichtliche Interviews mit 24 Akademikerinnen und Akademikern, die über ihre Sozialisation berichten und auf diese Weise einen bemerkenswert differenzierten Einblick in Gelingen und Scheitern bei der Schaffung einer katholischen Mentalität geben. Die dort und über autobiografische Texte präsenten Akademiker decken ein breites Spektrum der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte ab, von Walter Dirks bis zu Joseph Ratzinger (Benedikt XVI.).
Begonnen hat diese Geschichte mit einem guten Jahrzehnt organisatorischer und ideeller Aufbauarbeit. Auch die katholischen Studierenden sahen sich nach 1945 vor die Aufgabe gestellt, eine zerbrochene Ordnung neu zu gestalten. Sie taten dies in kritischer Distanz zum Nationalsozialismus und zur Weimarer Republik, in Absetzung von formalisiertem Christentum sowie in der bewussten Gestaltung einer nicht länger als vom Glauben abgesondert zu denkenden politischen Gesellschaft, paradigmatisch formuliert im so genannten "Hardehausener Grundgesetz" von 1946. Schmidtmann sieht die große Leistung der Nachkriegsgeneration bis 1957 darin, dass sie "Religion und säkulare Welt aufeinander bezog [...] und beide als Größen verstand [...], die sowohl gefestigt als auch reformiert werden müssen" (101). Organisatorisch vollzog sich diese Neubewertung der Bezugsgrößen über eine intensive Gruppen- und Bildungskultur an den Hochschulen, über den Dachverband der KDSE und Kernkreise, die besonders in der bischöflichen Studienförderung des Cusanuswerks anvisiert waren.
Eine neue Phase setzt für Schmidtmann Ende der 1950er-Jahre ein. Er parallelisiert sie mit der Vorbereitungszeit und der Durchführung des Zweiten Vatikanischen Konzils sowie dessen anfänglicher Umsetzung in den Ortskirchen. Ein neuer Stil des kritischen Umgangs mit der kirchlichen Hierarchie und der staatlichen Politik am Ende der Adenauer-Ära öffnete die Studentenverbände. Zu Dialogpartnern wurden die Sozialdemokratie und atheistische Gruppen. Der "katholische Block", der bis in die 1960er-Jahre das Wahlverhalten der Studierenden bei AStA-Wahlen dominiert hatte, löste sich auf. Die Differenzierung des bundesdeutschen Katholizismus kann Schmidtmann plastisch an Ernst-Wolfgang Böckenförde (katholischer Jurist), den Schriftstellern Carl Amery und Heinrich Böll sowie dem von letzterem literarisch verarbeiteten Prälaten Bernhard Hanssler vorführen. Schlüsselworte in der Rezeption des Konzils wurden schließlich Begriffe wie "Dialog" und "Pluralisierung" sowie "Ökumene". Der inneren Auflösung des geschlossenen Blocks entsprach nun allerdings keine äußere Auflösung. Im Gegenteil: Die 1960er-Jahre sahen einen personellen und materiellen Ausbau der Verbandszentralen und Hochschulgemeinden. Die Professionalisierung der Studierendenpastorale korrelierte jedoch nicht mit ihrer Reichweite unter der einem breiten Angebot ausgesetzten, traditionelle religiöse Bildungsangebote nicht mehr fraglos akzeptierenden Klientel.
So kann Schmidtmann die dritte Phase seiner Untersuchung mit der Überschrift beginnen: "Wer gehört überhaupt dazu?" (316) Für die Jahre nach 1967 konstatiert er das Ende der exklusiven Katholizität. Diskutiert wurde auf den Studententagen, ob Hochschulpolitik über konfessionelle Gruppen überhaupt noch zeitgemäß sei. Eine Mehrheit war dafür nicht mehr zu gewinnen. Vielmehr gewann ein "kritischer Katholizismus" die Oberhand, der Forderungen nach entschiedenen Stellungnahmen zur Gegenwartspolitik (vor allem dem Vietnam-Krieg) mit denen nach Veränderung innerkirchlicher Strukturen in Richtung einer größeren Demokratisierung verband. Die Studentenseelsorger sahen sich dabei zunächst in der Rolle von Mediatoren. Sie konnten aber eine zunehmende Entfremdung zwischen der KDSE und den deutschen Bischöfen nicht aufhalten. Mit der Streichung des finanziellen Zuschusses durch die Deutsche Bischofskonferenz im Jahr 1973 war das Ende der KDSE gekommen. Mit dieser Zäsur in der Geschichte der organisierten katholischen Studentenschaft beschließt Schmidtmann seine Studie.
Gewissermaßen noch einmal neu setzt er im vierten Kapitel mit den autobiografischen Interviews und schriftlichen Aussagen an. Leider sind aus Personenschutzgründen die meisten dort vorkommenden Namen anonymisiert. Doch auch so wird deutlich, wie für die meisten Nachkriegsstudierenden die Universität einen eigenen neuen Erfahrungsraum darstellte, der in Ablösung vom Elternhaus eine zweite religiöse Sozialisation bedeutete. Schmidtmanns Interviewpartner bestätigen die Einteilung der Nachkriegszeit in eine Aufbauphase, eine Periode der Infragestellung bisheriger Institutionen und Denkweisen und eine solche der Transformation von Mentalitäten und Strukturen. Sie zeigen aber auch, dass theoretische Destillate wie die von einer "skeptischen Generation" (Helmut Schelsky) in ihrer Wirkung auf die einzelne Person auch der Berücksichtigung konkreter lebensgeschichtlicher Ereignisse bedürfen.
Darin liegt ein wichtiges Ergebnis der Studie Schmidtmanns. Es geht ihm um die Reichweite allgemein formulierter theoretischer Modelle. Ihnen gegenüber ist er sehr zurückhaltend. Dagegen plädiert er "für Vielfalt, für Mehrstimmigkeit, für Unsicherheit" (497), die er in der katholischen Studierendenschaft wahrnimmt. Er liefert keine neuen Erklärungsmodelle - und das ist vielleicht sein zentraler Forschungsbeitrag. Denn auch so scheinbar homogene Gruppen wie katholisch sozialisierte und gebundene Studenten der Nachkriegszeit weisen eine Binnendifferenzierung in Organisation, Mentalität, theologischen und politischen Positionen und Lebensformen auf, dass forschungsleitende Theorien immer nur einen Teil der Wirklichkeit wiedergeben. Dem "Abschied vom Milieu" (Damberg) folgt damit auch ein zumindest zeitweiliger Abschied von den großen Forschungstheoremen und eine Hinwendung zur dichten Beschreibung der Phänomene (Clifford Geertz). Für die Einordnung und Charakterisierung der Mentalitäten einer Teilgruppe der bundesrepublikanischen Nachkriegselite hat Schmidtmann mit der vorliegenden Studie einen wichtigen Beitrag geleistet.
Christian Schmidtmann: Katholische Studierende 1945-1973. Ein Beitrag zur Kultur- und Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland (= Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte. Reihe B: Forschungen; Bd. 102), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2006, 535 S., ISBN 978-3-506-72873-9, EUR 69,00
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