Die Habilitationsschrift des Potsdamer Historikers Burghard Ciesla beschäftigt sich mit den vielfältigen politikgeschichtlichen, sozialhistorischen und verkehrsgeschichtlichen Aspekten einer fast vergessenen Kuriosität der deutschen Teilung: mit dem Betrieb der Eisenbahn und der S-Bahn in West-Berlin durch die Deutsche Reichsbahn der DDR. Die viel gestellte Frage, weshalb die Staatsbahn der DDR bis zu ihrem Ende am anachronistischen Namen Reichsbahn festhielt, hatte eine zentrale vermögensrechtliche Bedeutung: Die DDR stützte auf ihren Namen den Anspruch auf das ehemalige Reichsbahneigentum im Westteil der Stadt.
Unmittelbar nach der Gründung des Kontrollrats übergaben die Alliierten der Reichsbahn in der SBZ die Betriebsführung der Eisenbahn für ganz Berlin, ohne ihr zugleich auch die Eigentumsrechte über nicht unmittelbar betriebsnotwendige Immobilien wie Bahnhofsläden, Eisenbahnerwohnungen und Schrebergartenanlagen oder gar exterritoriale Statusrechte zu übertragen. Nach der politischen Teilung Berlins im Herbst 1948 versuchte die Reichsbahn der SBZ/DDR immer wieder, durch exekutive und symbolische Handlungen wie die Präsenz der Volkspolizei und das Hissen der DDR-Fahne auf Bahnhöfen Hoheitsansprüche auf das West-Berliner Reichsbahngelände geltend zu machen - und wurde von den westalliierten Stadtkommandanten und dem Senat von West-Berlin beständig zurückgewiesen.
Im West-Berlin der Fünfzigerjahre entwickelte sich die Reichsbahn mit ihren zunächst noch 7.000 Mitarbeitern zunehmend zu einem gesellschaftlichen Fremdkörper in einem antikommunistischen Milieu. Obwohl die S-Bahn im Alltag der West-Berliner bis zum Mauerbau noch fest verankert war, bildete der sozialistische "Mikrokosmos Reichsbahn" (Ciesla) eine soziale und politische Insel der DDR. Ciesla zeigt sehr anschaulich, mit welchen sozialpolitischen, kulturpolitischen und agitatorischen Mitteln die Reichsbahn die Stabilisierung eines "sozialistischen Betriebskollektivs" in einem antagonistischen gesellschaftlichen Umfeld versuchte.
Eine solche betriebliche Identitätspolitik war nach dem Mauerbau unbedingt nötig, um das angeschlagene Selbstbewusstsein der mehrheitlich nicht-kommunistischen West-Berliner Reichsbahner zu stützen. Nicht nur die Reichsbahn selbst, sondern auch die Reichsbahner wurden als Diener Ulbrichts verbal und gelegentlich auch handgreiflich attackiert. Da die Gehaltsentwicklung der Reichsbahn nicht mit dem öffentlichen Dienst West-Berlins mithalten konnte und die aufgeblähten Senatsbetriebe genügend berufliche Umstiegsmöglichkeiten für frustrierte Reichsbahner eröffneten, konnte die West-Berliner Belegschaft nur intrinsisch mit Appellen an ihren professionellen Eisenbahnerstolz und ihre mehrheitlich positiven Einstellungen zur Gesellschaftsordnung der DDR motiviert werden.
Der organisierte Boykott degradierte die stolze S-Bahn zu einem marginalisierten Restverkehrsmittel, das sich von einem symbolischen Vorposten des SED-Staates zu einem chronischen Defizitträger entwickelte. Es entging auch dem Laienverstand der Fahrgäste nicht, dass sich die S-Bahn von einem der modernsten und leistungsfähigsten Massenverkehrssysteme der Welt zu einem Monument technischer Rückständigkeit und physischen Verfalls entwickelte und so trotz günstiger Fahrpreise als Werbeträger für die DDR ausfiel. Die S-Bahn verschwand aus der Wahrnehmung der West-Berliner, die die S-Bahn nur für gelegentliche Fahrten in den Ostteil der Stadt nutzten, sie aber auch nach dem Abflauen der radikal antikommunistischen Stimmungen im Alltag weit gehend mieden.
Der Verfasser zeigt in den politikgeschichtlichen Abschnitten sehr nachdrücklich, wie sich die deutschlandpolitischen Zäsuren der Sechziger-, Siebziger- und Achtzigerjahre auf die Entwicklung der West-Berliner Reichsbahn und ihrer Beschäftigten auswirkten. Während sich das Verhältnis zwischen Reichsbahn und Senat nach dem Berlin-Abkommen (1971) und dem Grundlagenvertrag (1972) in Richtung einer geregelten Koexistenz normalisierte, setzte der West-Berliner Senat seine Verkehrspolitik fort, die S-Bahn durch den kostspieligen Ausbau des U-Bahn-Netzes vollständig überflüssig zu machen. Die institutionelle Selbstblockade der (West)-Berliner Verkehrspolitik löste sich erst auf, als der jährliche Zuschussbedarf an Devisen für die defizitäre S-Bahn für die DDR untragbar wurde. Die Staats- und Parteiführung der DDR trug mit Verspätung der Tatsache Rechnung, dass die S-Bahn ihre Symbolfunktion für die Ansprüche der DDR auf West-Berlin verloren hatte und der Senat direkte Verhandlungen mit dem Verkehrsministerium der DDR akzeptierte. Auch das Drängen von West-Berliner Bürgerinitiativen bewegte den Senat dazu, eine pragmatische Lösung jenseits aller rechtlichen Statusfragen zu suchen, die Betriebsführung der S-Bahn in West-Berlin zu übernehmen und sie in die Verkehrsplanungen für die Teilstadt zu re-integrieren.
Burghard Ciesla, ein ausgewiesener Experte für die Verkehrsgeschichte der DDR, demonstriert seine hohe Sachkompetenz bei der Analyse und Darstellung verkehrshistorischer Prozesse. Seine facettenreiche und durchweg gut lesbare Monografie zeigt, dass die neue Verkehrsgeschichte zu vielen anderen historiografischen Feldern wie der Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte, der allgemeinen Politikgeschichte und der speziellen Politikfeldgeschichte, aber auch zur Sozialgeschichte und Alltagsgeschichte "anschlussfähig" ist. Wer immer noch glaubt, Verkehrsgeschichte sei lediglich eine Spezialdisziplin für detailbesessene Technikliebhaber ("Pufferküsser") und kein Bestandteil der Gesellschaftsgeschichte, wird durch Cieslas Buch eines Besseren belehrt.
Burghard Ciesla: Als der Osten durch den Westen fuhr. Die Geschichte der Deutschen Reichsbahn in Westberlin (= Zeithistorische Studien; Bd. 34), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2006, 356 S., 20 Abb., ISBN 978-3-412-30505-5, EUR 47,90
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