Auf Kuba steht die Zeit still. Auf diese häufig gehörte Metapher rekurriert auch der Kölner Lateinamerikahistoriker Michael Zeuske, um den aktuellen gesellschaftlichen Zustand auf der größten Antilleninsel zu charakterisieren. Ein Eindruck, der umso nachhaltiger ist, wenn er mit der Dynamik der historischen Entwicklung Kubas seit der Entkolonialisierung und Unabhängigkeit Ende des 19. Jahrhunderts verglichen wird. Davon kann sich der Kuba-interessierte Leser in einer deutlich erweiterten und aktualisierten Auflage von "Insel der Extreme. Kuba im 20. Jahrhundert" überzeugen, in der Zeuske eine erste Gesamtanalyse kubanischer Geschichte im vorangehenden Jahrhundert in deutscher Sprache bietet. Die Überarbeitung erfordert vom Leser eine noch größere Bereitschaft, sich auf die unterschiedlichen Pfade politischer, gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und kultureller Entwicklungen einzulassen - der Seitenumfang des reinen Darstellungsteiles ist um etwa zwei Drittel gestiegen - belohnt ihn dafür aber mit einer faktengeladenen Synthese und präzisen wie abwägenden Erörterung der zahlreichen Schlüsselereignisse, -prozesse und -wendungen jüngerer kubanischer Geschichte.
Ein wesentlicher Unterschied zur ersten Ausgabe besteht darin, dass Zeuske der Vorgeschichte der Republikgründung 1902 einen deutlich größeren Platz einräumt. Kuba erlangte seine Unabhängigkeit im Anschluss an zwei lange und zerstörerische (Bürger)-Kriege gegen die spanische Kolonialmacht von 1868-1878 und schließlich 1895-1898. Der zweite Unabhängigkeitskrieg wurde erst durch das Eingreifen der USA entschieden ("Der geraubte Krieg"), die bis 1902 eine Okkupationsregierung auf der Insel etablierten. Im Gegensatz zum benachbarten Puerto Rico erhielt Kuba zwar eine eigene Verfassung und schließlich auch eine eigenständige Regierung, diese musste mit dem Verfassungszusatz des "Platt-Amendment" aber der Hegemonialmacht ein Interventionsrecht zugestehen.
Zeuske differenziert die Epoche zwischen 1902 und 1959, die im kubanischen Sprachgebrauch despektierlich zur "neokolonialen" oder "vermittelnden" Republik geworden ist, in eine erste Hälfte der Regierungszeiten der "Generäle und Doktoren", die mit dem Sturz der Machado-Diktatur 1933 endete, und eine zweite Republik, in der Fulgencio Batista als bedeutendste politische Gestalt in den Mittelpunkt rückte. Für die noch recht wenig historisch erforschten ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts hält der Autor als wichtigste Entwicklungen die Verfestigung und Modernisierung der wirtschaftlichen Monokultur auf der Basis der Zuckerwirtschaft, die Entnationalisierung einzelner Wirtschaftssektoren (nicht in erster Linie des Zuckers!) und die U.S.-Amerikanisierung der Alltagskultur fest.
Fulgencio Batista zog zwar erst 1940 in den Präsidentenpalast ein, agierte aber bereits in den Jahren zuvor als starker Mann im Hintergrund. Seine erste demokratisch legitimierte Regierungszeit war durch ein breites Bündnis gekennzeichnet, das selbst Mitglieder der Sozialistischen Partei einschloss. Die Nachfolgeregierungen unter den Zivilisten Grau San Martín und Prío Socarras erfüllten nicht die Hoffnungen auf eine Bekämpfung der endemischen Probleme Korruption, Gewalt und Pfründenwirtschaft. Da die politische Opposition sich durch den spektakulären Selbstmord ihres Anführers Eduardo Chibas 1951 quasi selbst enthauptete, griff Batista im folgenden Jahr zum Mittel des Staatsstreiches, um einen Sieg der radikalen Opposition bei den Wahlen zu verhindern. Erst jetzt wurde er zum Archetyp des lateinamerikanischen Diktators, an der Spitze eines korrupten Regimes, mit einer immer weiter um sich greifenden anglo-kubanischen Mafia und zunehmender repressiver Gewalt gegen die Opposition.
In dieser Situation erschien Fidel Castro auf der politischen Bühne des Landes. Zunächst als Organisator und Anführer eines selbstmörderischen Angriffes auf die Moncada-Kaserne in Santiago de Cuba (26. Juli 1953), nach seiner Amnestie und Exilierung dann als Kopf der Guerilla-Bewegung, die sich in den Bergen des Ostens unter großen Mühen formierte und schließlich am 1. Januar 1959 den Sieg errang. Bei der Analyse der Revolutionsursachen und Gründe für ihren Erfolg tritt Zeuske der Meinung entgegen, dass das Batista-Regime außerordentlich brutal und die Not der kubanischen Bevölkerung ohne Parallelen im karibischen und lateinamerikanischen Umfeld war. Alle demografischen und wirtschaftlichen Indices weisen Kuba sogar einen vorderen Platz in der Hemisphäre zu. Doch Revolutionen halten sich nicht an theoriegeleitete Kausalzusammenhänge. Die Legitimität der Guerilleros und ihrer Unterstützer in den Städten - die Bedeutung letzterer für den Erfolg hebt der Autor hervor - resultierte daraus, dass sie die Probleme einer unvollendeten Nation ansprachen und für eine Erneuerung standen im Sinne des zum Apostel verklärten Gründungsvaters des Separatismus, José Martí, dessen Kult die republikanischen Parteien betrieben, ohne aber seine Vorstellungen von Egalitarismus, Selbstbestimmung und Solidarität umzusetzen.
Die "permanente Revolution" seit 1959 unterteilt Zeuske in drei Phasen. Bis 1970 war Kuba wieder wie in der Kolonialzeit eine "Insel der Experimente". Vor allem in der radikalisierten zweiten Agrarreform von 1961 sieht er eine verheerende wirtschaftspolitische und soziale Fehlentscheidung, die zur Vernichtung eines Großteils der unabhängigen Bauernschaft außerhalb der großen Staatsbetriebe führte. Zusammen mit dem Verfall des Dienstleistungssektors und der Beseitigung letzter Ansätze von Privatinitiative liegt hierin eine große Verantwortung für die wirtschaftlichen Probleme der Insel bis in die heutige Zeit. Symbolischer Schlusspunkt dieser Phase war die Kampagne der Zehn-Millionen-Tonnen Zuckerrohrernte 1970, die sowohl für das Scheitern der voluntaristischen, guevaristischen Mobilisierung steht als auch für den Versuch, die Ökonomie auf eigenständiger Basis zu entwickeln.
Die Phase von 1970 bis 1990 kennzeichnet die realsozialistische Institutionalisierung der Revolution. Durch den Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen zum COMECON und sowjetische Hilfsleistungen erholte sich die Inselökonomie von den Fehlschlägen der ersten Jahre. Der Preis der Stabilisierung war die Perpetuierung von Dependenzbeziehungen. Zu den interessantesten Aspekten komparativer Politikstrategien zählt, dass als die Perestroika in der Sowjetunion Mitte der 1980er-Jahre begann, die Gesellschaft und Wirtschaft allmählich zu öffnen und auf Marktbedingungen vorzubereiten, Castro eine genau gegensätzliche Politik betrieb und die zwischenzeitlich erlaubten freien Bauernmärkte wieder verbot, da sie korruptionsanfällig waren und soziale Ungleichheiten schufen. Ursachen für die Krise zu Beginn der 1990er-Jahre wurden schon durch diesen antireformerischen Kurs gelegt.
Der Zusammenbruch des sozialistischen Blocks in Europa 1989/90 beschleunigte die Depression. Bis 1994 durchlitt die kubanische Wirtschaft eine beispiellose Talfahrt, mit den entsprechenden sozialen Folgen, die in erstmalige massive Unruhen und eine erneute Flüchtlingskrise mündeten. Dass sich die Castro-Regierung dennoch hielt, führt Zeuske weniger auf die zarten Reformen zurück, die erstmals wieder privatwirtschaftliche Initiative zuließen, als auf die Eigenheiten des karibischen Sozialismus, der immer viel stärker Linksnationalismus als Kommunismus repräsentierte. Zu diesen Besonderheiten zählen auch das Ventil der kontrollierten Massenauswanderung, kombiniert mit einem Klima ständiger Repression niedriger Intensität, Verlustängste der Bevölkerung gegenüber den reichen Verwandten in Miami, ein starker, trotziger Patriotismus, die charismatische Figur Castros sowie die immer noch fest etablierten bürokratisch-militärischen Strukturen. Gerade der Armee kommt nach Zeuske eine Schlüsselrolle bei der zum Teil seit 40 Jahren gestellten Frage zu, was kommt nach Castro? Der Autor konstatiert ein Voranschreiten der militärischen Parallelorganisation in den letzten Jahren und traut dem militärischen Apparat zu, ein Fortbestehen des Castroismus nach Castro in der Phase der Transition durchzusetzen.
Insgesamt wird die Neuauflage der "Insel der Extreme" dem sicherlich gewollten Anspruch, zum Standardwerk deutschsprachiger Kubahistoriografie zu werden, gerecht. Über die enge politik- und wirtschaftsgeschichtliche Darstellung bemüht sich Zeuske, Entwicklungen auf dem Gebiet der Kultur mit einzubeziehen. Dies schließt einen beinahe 20-seitigen kulinarischen Exkurs über die kreolische Küche mit ein! An einzelnen Stellen neigt der Autor dazu, historische Figuren einzuführen, ohne ihre Stellung und Bedeutung zu erläutern, bzw. holt dies erst an späterer Stelle nach (bspw. Ricardo Betrell, Antonio Guiteras). Im Rahmen einer an chronologischen Leitlinien orientierten Überblicksdarstellung wäre darüber hinaus auch die Erstellung einer Zeittafel hilfreich gewesen. Die Erwähnung dieser Petitessen mindert den Gesamteindruck des Werkes aber in keinster Weise.
Michael Zeuske: Insel der Extreme. Kuba im 20. Jahrhundert, 2., akt. u. stark erw. Aufl., Zürich: Rotpunktverlag 2004, 416 S., ISBN 978-3-85869-208-5, EUR 21,00
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