Gotthards These, die er in der sehr gründlichen, ausgiebig in Details verästelten Darstellung überzeugend entfaltet, lässt sich so formulieren: Es habe sich um den Versuch gehandelt, einen auf Dauer angelegten politisch-rechtlichen Frieden im Reich "bei werender Spaltung der Religion" herzustellen, der also die religiöse Wahrheitsfrage um des Friedens willen außen vor lassen sollte. Er sei nach anfänglichem, wenn auch mühsam erreichtem Gelingen bis 1580 in den Jahrzehnten danach gescheitert, weil eben dies danach zunehmend nicht oder nicht mehr möglich gewesen sei. Denn einerseits hatte der Religionsfrieden selbst erhebliche Mängel. Andererseits sei auf beiden Seiten die religiöse Wahrheitsfrage politisch wieder bestimmend geworden und habe sich mit jeder anderen Frage im Reich verbunden.
Gotthard entwickelt diese Auffassung nach einer "Annäherung" (1-21) in fünf Kapiteln. In Kapitel "Der Reichstag von 1555" (22-170) behandelt er die Entstehung des Religionsfriedens in drei Abschnitten zum - ungenügenden - Forschungsstand (22-29), zum zeitlichen Ablauf (29-62) und zur Genese (63-170). Im zweiten Kapitel "Der Religionsfrieden zieht die Summe der Reformationszeit" (171-239) schildert Gotthard die Entwicklungen von 1521 bis zum Augsburger Reichstag in vier Abschnitten vom Scheitern der Religionsgespräche (171-174) über wieder abgeblasene Kampfansagen (175-186) sowie die politischen Provisorien (186-230) bis zum Kompetenzzuwachs der Landesregierungen (231-239). Das 3. Kapitel "Der Religionsfrieden prägt das konfessionelle Zeitalter" (240-500) gilt der Entwicklung nach 1555, die in vier Abschnitten zu den vorprogrammierten Konfliktfeldern (240-280), dem Verhältnis des Religionsfriedens zu den Landesgeschichten (280-316), zur Reichsgeschichte bis 1580 (316-385) und nach 1580 (386-500) behandelt wird. In Kapitel "Der Augsburger Religionsfrieden - Ein Meilenstein auf dem Weg zur Moderne? " unternimmt Gotthard eine allgemeine geschichtliche Würdigung des Religionsfriedens unter den Fragestellungen Säkularisierung des christlichen Abendlandes (501-527), Antizipation eines modernen Grundrechts der Freiheit zu gehen (527-535) oder des privaten Innenraums (535-560), Toleranz (560-578) und der Frage, warum der Religionsfriede nicht dauerhaft befriedet habe (579-586). Das letzte Kapitel "Zur Wahrnehmung des Religionsfriedens in Fachliteratur und volkstümlichen Schriftgut" (587-651) stellt die Rezeptionsgeschichte in Propaganda und Polemik bis 1648 (587-613) und in neueren Urteilen und in den Jubiläumsfeierlichkeiten (613-651) dar.
Entwicklung und Begründung der eingangs genannten Thesen in Gotthards Darstellung lassen sich wie folgt skizzieren: Das Konzept eines politisch-rechtlichen an Stelle eines religiösen Friedens setzte sich in Augburg allmählich in den Beratungen des Kurfürsten- und des Fürstenrates untereinander und mit Ferdinand I. durch (63 f.). Es war das Ergebnis der Erschöpfung nach den anderen Versuchen zu einer religiösen Einigung in der Reformationszeit, die letztlich nicht zum Ziel, sondern zur Gewaltanwendung in den Kriegen seit 1544 führten (171 f.). Dieses Konzept verlor, so Gotthard, aber im Lauf der Jahre seine Attraktivität. Denn es sei eine neue Generation von Herrschern aufgetreten, die die Unfriedenserfahrungen der Reformationszeit vor 1555 nicht mehr gehabt und insbesondere mit Gegenreformation und Calvinismus die religiöse Wahrheitsfrage gegenüber dem Wunsch nach Frieden wieder in den Vordergrund gerückt habe. Allerdings machten sie die Austragung dieser Konflikte nicht mehr in der Religion selbst und unmittelbar, sondern eben an dem Religionsfrieden und seinen Regelungen fest, da der Religionsfrieden selbst in der Umsetzung des Konzeptes bereits erhebliche Lücken und interpretationsbedürftige Unklarheiten enthalten habe.
Grundlage des Friedens war die Verlagerung der Religionsfrage von der Ebene des Reiches auf die Ebene der Landesherren, denen das ius reformandi zugebilligt wurde (100 f.). Diese "Freistellung" bot aber bereits mehrere Unklarheiten, die für zunehmende Konflikte sorgte, die sich schließlich nicht mehr lösen ließen: Stand sie nur den Landesherren oder auch den Gläubigen zu; erlaubte sie auch zukünftige Konversionen; was sollte mit der geistlichen Jurisdiktion katholischer Bischöfe in den protestantischen Territorien geschehen; welche Konfessionen waren zulässig; wie sollte sich die Koexistenz in den bikonfessionellen Reichsstädten gestalten; was bedeutet das ius emigrandi der jeweiligen Andersgläubigen? Den Religionsfrieden ergänzende Akte durchlöcherten zudem sein Grundprinzip, der geistliche Vorbehalt und dazu die Declaratio Ferdinandea. Gotthard verfolgt diese Fragestellungen in ihrer wachsenden Konfliktträchtigkeit insbesondere im dritten Kapitel
Es zeigt sich in Gotthards Darstellungen, dass in Wirklichkeit die Realisierung des Prinzips cuius regio - eius religio keineswegs ein klares und friedensstiftendes Prinzip, sondern mit erheblichen Konflikten verknüpft war. Denn zu viele und verschiedene Rechte unterschiedlicher Rechtsträger standen dem ius reformandi des Landesherrn gegenüber. Diese Rechte aber wurzelten ihrerseits im Reichsrecht, sei es aus der Zeit vor 1555, sei es aus dem Religionsfrieden selbst. So wuchs zwar einerseits die Macht der Landesherren. Aber andererseits konnten die Konflikte nur auf Reichsebene gelöst werden. Dazu mussten sich die Konfessionsparteien in den verschiedenen Organen, die für die Interpretation und Anwendung des Reichsrechtes zuständig waren - Reichstag, Reichsgerichte und letztlich der Kaiser - zu weiteren Klärungen - und d. h. auch zu weltlichen politisch-rechtlichen Kompromissen ohne Rücksicht auf die Religion und die Wahrheitsfrage - bereit finden. Sie mussten auf der Ebene des Konzeptes des weltlich-politischen Friedens bleiben. Aber eben diese wurde, wie Gotthard eingehend darlegt, immer mehr verlassen, und zwar zunehmend in schließlich fast allen Konfliktfragen. Zunächst die Reichsjustiz und dann schließlich auch der Reichstag bzw. die Versammlungen der einzelnen Stände wurden zunehmend blockiert, denn Mehrheitsentscheidungen, die strukturell stets die Katholiken begünstigt hätten, wurden nicht akzeptiert, wenn es auch nur ansatzweise um Religionsfragen ging. Übereinkünfte aber kamen immer weniger zustande, da die Wahrheit Vorrang vor dem Frieden erhielt und sich über sie keine Kompromisse finden ließen.
Das Buch erhellt nicht nur die verwickelten Zusammenhänge des Religionsfriedens, seines Entstehens und seiner Wirkungen in historiographischer Sicht, sondern stellt auch einen. z. T. kritischen, in jedem Fall weiterführenden Beitrag zur Verfassungsgeschichte des Reiches in dieser Epoche dar, da Gotthard die Rechtsfragen ausführlich einbezieht. Bemerkenswert ist, dass er mehrfach nicht beleg- und ableitbare Schlussfolgerungen vermeidet. Vor allem gelingt es ihm, da er die religiösen Antriebe der Handelnden ernst nimmt, paradigmatisch die unendliche Schwierigkeit deutlich zu machen, in einer in ihren inhaltlichen Grundlagen zerrissenen und zersplitterten Zeit Frieden zu errichten und zu bewahren und in der Wahrheit zu leben. Ist in einer pluralistischen Welt, die ja auch die unsere ist, Frieden nur um des Verzichts auf Wahrheitssuche oder Leben in der Wahrheit nur unter Aufgabe des Friedens möglich?
Axel Gotthard: Der Augsburger Religionsfrieden (= Reformationsgeschichtliche Studien und Texte; Bd. 148), Münster: Aschendorff 2004, XLV + 672 S., ISBN 978-3-402-03815-4, EUR 84,00
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