Das Buch ist Ergebnis einer Tagung, die im Jahr 2003 an der Hochschule Södertörn in Stockholm stattgefunden hat. Im Zentrum stand die These der Herausgeber, dass es in Europa zwischen 1600 und 2000 eine Reihe nicht-ethnisch begründeter Staatsbildungen gegeben habe. Um es gleich vorweg zu sagen, das Ergebnis ist nicht wirklich eindeutig. Das macht den Band darum aber nicht weniger interessant, zumal die Herausgeber an exponierter Stelle Beiträge abdrucken, die ihren eigenen Ansichten dezidiert widersprechen.
Die Herausgeber gehen in ihrer Einleitung von der Feststellung aus, dass die Staatsbildungen der Frühen Neuzeit in aller Regel Ergebnis von Kriegen waren. Diese Staatsbildungen seien somit älter als die uns heute selbstverständlich erscheinenden Nationalstaaten. Staatsbildung sei vielmehr Ergebnis von Steuer- und Machtpolitik (Charles Tilly) gewesen. Die Rolle der Ethnie sei damit zumindest uneindeutig, wobei die Herausgeber zwischen der tatsächlich feststellbaren Rolle ethnischer Staatskonstruktionen einerseits sowie deren nachträglicher historiographischer Konstruktion andererseits unterscheiden. Das erweist sich als problematisch, nicht zuletzt weil nicht alle Autoren diese Unterscheidung übernehmen.
Gegenstand des Bandes sind Staatsbildungen in unterschiedlichen Teilen Europas (keineswegs nur in Nord- und Osteuropa), die chronologisch nach Früher Neuzeit und Moderne aufgeteilt werden. Die einzelnen Beiträge richten ihr Interesse meist auf einen einzelnen Staat, wobei sie vor allem jene Staaten betrachten, die in den meisten Synthesen verlässlich durch Abwesenheit glänzen: etwa Schottland, Schweden, Transsylvanien, Lombardei, Polen-Litauen, Böhmen, Griechenland, Serbien und Belgien.
Der Einleitung durch die Herausgeber folgt ein Beitrag von Miroslav Hroch, der auf zehn konkrete Fragen der Herausgeber antwortet. Hroch betont eingangs deutlich seine Zweifel am Konzept der Herausgeber, wie er auch in den Antworten auf die vorgegebenen Fragen hervorhebt, dass es Ausnahmen zu praktisch jeder Regel der Staatsbildung in Europa gegeben habe. Selbst das deutlich nicht-ethnische, föderative Gebilde des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation werde bis heute als "Deutschland" übersetzt, was von Seiten deutscher Historiker klare Ansprüche auf eine ethnische Staatskonstruktion ausdrücke. Auch der folgende politikwissenschaftliche Beitrag von Eric Kaufmann formuliert Zweifel am Konzept der Herausgeber, indem er schon zu Beginn unterstreicht, dass "traditions of statehood usually do not stand outside of dominant ethnicity, but instead help to constitute it" (37).
Die folgenden 14 Aufsätze stellen jeweils verschiedene Staatsbildungsprozesse dar. Alan R. MacDonald kann etwa für das mittelalterliche und frühneuzeitliche Schottland aufzeigen, dass die Reformation im 16. Jahrhundert einen erheblichen Einfluss auf den Staatsbildungsprozess hatte, wobei Schottland sich stets als multi-ethnischer Staat verstanden habe. Matt Schumann betont hingegen für die am Siebenjährigen Krieg (1755-1763) beteiligten Staaten, dass diese den Krieg wie die internationalen Streitigkeiten gezielt nutzten, um politische Interessen durchzusetzen. Ganz konsequent schreibt er gleich zu Beginn seiner Überlegungen, dass es möglich war: "using the guises of various '-isms' to promote no higher purpose than one's own well-being" (159).
In den Aufsätzen zur Moderne geht es verstärkt um historiographische Konzeptionen in ihrem Einfluss auf Staatsbildungsprozesse. So untersucht Asker Pelgrom, wie die lombardische Geschichte aus der Zeit der Kriege Friedrich Barbarossas in verschiedenen Gegenden Italiens im 19. Jahrhundert interpretiert wurde. Dabei kann er aufzeigen, dass diese Erzählungen bis heute quasi multifunktional verwendbar sind. Ein ähnliches Problem diskutiert Jonathan Kwan. So sei die böhmische Geschichte im 19. Jahrhundert zwischen Tschechen und Deutschen umstritten gewesen und geblieben. Ein weiterer Schwerpunkt ist der im Balkan anzutreffende Glaube an "natürliche Grenzen", der so genannte Irredentismus, wie er von Effi Gazi für Griechenland und von Marius Turda für Kroaten, Serben und Slovenen um 1900 analysiert wird.
Insgesamt ist jedoch deutlich, dass einige Beiträge sich schwer damit tun, die von den Herausgebern vorgegebene Frage wirklich zu beantworten. Sie gleiten in bekannte Diskussionen über Nationalismus und Nationalstaatsbildung ab. Seltsamerweise nutzen selbst Beiträge zu den Staatsbildungen der Frühen Neuzeit diesen Referenzrahmen meist recht unreflektiert. Die Begrifflichkeiten der natio und der patria lassen sich zwar einerseits in den Überlegungen der frühneuzeitlichen Denker finden, zumal sie zum selbstverständlichen Bildungsgut humanistischer Gelehrsamkeit gehörten. Ihre Bedeutung für die Bildung von frühneuzeitlichen Staaten ist damit freilich noch nicht abschließend beantwortet (vergleiche den Aufsatz von Mark L. Thompson über Jean Bodins Sechs Bücher über den Staat).
Dies demonstrieren die zwei Aufsätze zur Staatsbildung Schwedens im 17. Jahrhundert. Johan Holm untersucht die Geburt des frühneuzeitlichen Nationalismus in Schweden, den er als Antwort auf den Tod Gustavs II. Adolf versteht. Dieser habe nach einer neuen Legitimation für die fortgesetzte Kriegführung und Kriegslasten verlangt. Sie habe im Bezug auf Nation und äußere Bedrohung gelegen. Ist aber Schwedens Bedrohung durch auswärtige Feinde ein hinreichendes Argument für nationale Geschlossenheit und somit für eine ethnische Staatskonstruktion? Anna Maria Forssberg zeigt in ihrer Untersuchung über die Kriegspropaganda von 1655 bis 1680 einerseits ähnliche Argumentationsmuster auf, wie sie von Schweden im Krieg gegen Dänemark Verwendung fanden. Als es aber nach 1660 darum ging, die ehemals dänischen Gebiete Schonen und Blekinge in den schwedischen Staat zu integrieren (re-integrieren nach damaliger Vorstellung), wurde auf alle patriotischen und nationalen Argumente verzichtet. Das Mittel der Wahl war vielmehr eine gezielte Sprachenpolitik, also die Gründung einer Universität und der Gottesdienst in schwedischer Sprache.
Es bleibt also eine gewisse Skepsis hinsichtlich ethnischer und nationaler Argumentationsmuster, so lange diese nicht mit anderen Erklärungen kontrastiert werden. Die Stärke des vorliegenden Bandes liegt daher auch nicht in einer neuen übergreifenden These, sondern in der Auseinandersetzung mit einem Forschungskonzept, das selbst unter den eingeladenen Historikern nur geteilte Zustimmung gefunden hat. Darüber hinaus erhält der Leser einen Einblick in die Vielfalt frühneuzeitlicher und moderner Staatsbildungen sowie der wissenschaftlichen Diskussion in den Geschichtskulturen vor allem Osteuropas.
Linas Eriksonas / Leos Müller (eds.): Statehood Before and Beyond Ethnicity. Minor States in Northern and Eastern Europe, 1600-2000 (= Multiple Europes; Bd. 33), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2005, 460 S., ISBN 978-90-5201-291-9, EUR 53,40
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