Die so genannte neue Politikgeschichte versteht ihren Gegenstandsbereich nicht als überzeitlich, klar abgrenzbar, sondern als historisch wandelbaren Raum, der sich in Kommunikationsakten manifestiert und nur in kommunizierter Form sichtbar wird. Politik als "das Politische": ein Handlungsmodus historischer Akteure, die sich spezifischer Medien bedienen, um abstrakte Sachverhalte sinnfällig zu machen, um Deutungsprozesse in Gang zu setzen und Sozialordnung kommunikativ herzustellen. Unter diesen Prämissen ist die Materie nicht zuletzt dorthin zurückgekehrt, wo ihr einst ein furioser strukturgeschichtlicher Exorzismus bereitet wurde: an die Universität Bielefeld, den Sitz des Sonderforschungsbereichs "Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte". Akteurs-, handlungs- und vor allem medienorientierte Ansätze fügen sich beispielhaft in diesen Zusammenhang - wie auch die Tatsache, dass die Veröffentlichungen der ersten Förderphase einen besonderen Fokus auf symbolisches Handeln dokumentieren. Jan Andres' Dissertation ist eine von zwei Arbeiten, die sich Huldigungsritualen im 19. Jahrhundert widmen: einem vielschichtigen Forschungsthema, das hier aus einer interdisziplinär erweiterten, germanistischen Perspektive beleuchtet wird.
Anknüpfend an Überlegungen seines Doktorvaters Wolfgang Braungart, bemüht sich Andres primär um die Zeremoniellästhetik und den Beweis, dass sinnliche Gestaltung für das Politische per se konstitutiv ist. Herrschaft bedarf der Darstellung, der poiésis: Dieser Glaubenssatz wird sowohl an einzelnen, vornehmlich aus Zeitungsquellen rekonstruierten Herrschaftsantritten (Teil I) als auch als Huldigungspoesie im engeren Sinne belegt (Teil I und II). Die Inthronisationsbeispiele aus Preußen (1840, 1861) und dem Fürstentum Lippe (1790, 1851) dienen vor dieser Folie weniger als Plattform für historische Detailforschungen, denn vielmehr als Grundlage für ein systematisches Beschreiben von ästhetischen "Struktur[en]" (12). In diesem Sinne verwendet der erste Untersuchungsteil erheblichen Theorieaufwand darauf, den Ereignistyp in die Schlagwortkartei kulturwissenschaftlicher Schlüsselbegriffe einzuordnen (21-142). Dass Huldigungen zugleich Feste, Zeremonielle und politische Repräsentationen mit öffentlichem, theatralem Charakter waren, hätte als Ausgangspunkt weiterer Überlegungen durchaus knapper gefasst werden können. Immerhin sind die Termini, die zugleich die Kapitelgliederung vorgeben, seit geraumer Zeit im kulturwissenschaftlichen Ritualdiskurs präsent.
Andres belässt es indes nicht bei statischer Typisierung. Ziel des "stärker historisch orientiert[en]" (13) ersten Teils ist es zudem, den ästhetischen Wandel von Herrschaftsantritten im 19. Jahrhundert darzustellen: Der Treueid der Untertanen war ein Relikt des Ständestaates, eine rechtsverbindliche "Verfassung in actu", die vormoderne Herrschaftsverhältnisse beglaubigte. Trotz wachsender Kritik erhielt sich das Ritual jedoch bis in die konstitutionelle Epoche und wurde erst sukzessive durch andere Inthronisationsformen wie die preußische Krönung von 1861 ersetzt. Hierauf basierend rekonstruiert der Verfasser ästhetische Veränderungen: Vom Zwang zur minuziösen Einhaltung der Zeremoniesequenzen hin zu mehr gestalterischen Freiräumen. Von buchstäblicher Staats-Verkörperung durch den Monarchen hin zu abstrakten, stellvertretenden Repräsentationsformen. Und: Von der stärker performativen Huldigungstheatralität, die Ordnung im Vollzug herstellte, hin zur vornehmlich referenziellen Theatralität der juristisch folgenlosen Krönungen. Als Katalysator der Transformation benennt Andres schließlich den Öffentlichkeitswandel: Je mehr die "Anwesenheitsöffentlichkeit" teilnehmender Akteure von einer massenmedial konstituierten Leseöffentlichkeit überlagert wurde, desto stärker veränderte sich die zeremonielle Kommunikation.
Die Bedeutungskonstitution verlagerte sich in die Presse und wurde politisch streitbar: Dieser Befund wendet gleichsam nach innen, was Johannes Paulmann originär am außenpolitischen Zeremoniell entwickelt hat. [2] Es ist jedoch nicht der ausbleibende Überraschungseffekt in diesem Punkt, der die prägnanten Thesen kritisch hinterfragen lässt. Skeptisch stimmt vielmehr die Zusammenfassung des ersten Teils, die eine Fusion der Beispielanalysen auf höherer Ebene verspricht, stattdessen jedoch das politische Raumkonzept nochmals theoretisch nachzeichnet. Andres' Ergänzung, die Metapher werde am konkreten Zeremoniellraum fassbar, fügt dem common sense des Forschungsprojektes wenig Neues hinzu, provoziert indes Fragen nach der Vorgehensweise: Wurden die Überlegungen tatsächlich aus empirischen Einzelfallstudien entwickelt, oder handelt es sich nicht doch eher um nachträglich belegte Vorannahmen? Die Unklarheit rührt nicht zuletzt aus der Gliederung des ersten Teils. Konkret beispielbezogen sind vor allem die letzten Abschnitte über den Öffentlichkeitswandel und die Veränderung des theatralen Status'. Im Übrigen dominiert ein statisches Nebeneinander von fremdwortgesättigten Theoriekapiteln und reinen Festbeschreibungen mit schillernder Belegfunktion. Wenn es um den bloßen Beweis für die prinzipielle Theatralität von Huldigungen geht, werden die historischen Beispiele austauschbar: Die Befunde für die Feiern in Detmold und Lemgo 1790 können, wie der Autor selbst einräumt, ebenso gut für die preußischen Herrschaftsantritte von 1840 und 1861 gelten, wobei die Frage, warum das Theatrale gerade an Lippe "sofort ins Auge fällt" (111), nicht eigens beantwortet wird. Hier wie andernorts bleibt das Zusammenführen von Theorie und Beispiel vielmehr der performativen Hermeneutik des Lesers überlassen - ein Defizit, das sich auch zu Beginn des zweiten Untersuchungsteils über Huldigungslyrik als "Symbolisches Handeln" bemerkbar macht (195-290).
Im Parforceritt durch den kulturwissenschaftlichen Definitionsdschungel bemüht sich Andres hier um einen Symbolbegriff, der die "sinnlich-hermeneutischen, kommunikativen" (166) Qualitäten akzentuiert. Zweck der Bemühungen soll es sein, die Fallbeispiele präzise zu beschreiben. Die Quintessenz der gut 20-seitigen Herleitung erschöpft sich letztlich jedoch in der Aufforderung, zurückzublättern: "An den Beschreibungen der Herrschaftsantritte", so heißt es, ließen sich die Thesen "leicht nachvollziehen" (185) - schließlich seien symbolische Formen in allen untersuchten Fällen essenziell. Solcher Leerlauf ist ärgerlich - umso mehr, als der Germanist auf vertrautem Terrain, bei der souveränen Analyse von Huldigungslyrik, mehr Mut zum Eintauchen in die Quellen beweist. Das Symbolische, so lautet die These, liegt nicht im Zeichen selbst. Es entfaltet sich vielmehr erst in der subjektiven Deutung, die gleichermaßen individuell wie historisch-kulturell bedingt, stets aber durch die Sinnlichkeit des Zeichens vermittelt ist. Es ist das Ästhetische am Symbol, das die Konnotation bestenfalls intuitiv nachvollziehbar macht, zugleich jedoch eine autonome Expressivität entfaltet und nicht zwingend im Transport der Botschaft aufgeht. Dass die Form den Inhalt entscheidend mitprägt, erschließt sich sinnfällig aus der anschließenden Untersuchung von Laiengedichten: Als fester Bestandteil von Inthronisationen waren die Verse sowohl Formen politischer Partizipation als auch repräsentative, ehrende Herrschaftsvollzüge. Wie Andres am Beispiel eines hebräischen Gedichtes verdeutlicht, realisierte sich die lobpreisende Handlung indes nicht erst in der Textsemantik. Sie verwirklichte sich vielmehr bereits in der Art der Inszenierung (Widmung, festliches Überreichen) und der bloßen Wahl der panegyrischen Gattung (Ode, Hymne, Lied).
Wie flexibel aber sind ästhetische Formen für inhaltliche Umdeutungen? Was geschieht, wenn sie aus alten in neue Kontexte verpflanzt werden? Und: Wenn die expressivsten Formen in der Lage sind, zwingende Eindeutigkeiten zu kommunizieren - welche in- und externen Faktoren konstituieren oder sabotieren jene Expressivität im jeweils konkreten Fall? Es sind Fragen wie diese, die die politische Bedeutung des Ästhetischen am Einzelbeispiel fassbar machen. Andres' Zeremoniellanalyse folgt ihnen dennoch nur bedingt: Klargestellt wird, dass die Huldigung 1861 nicht mehr tragbar war. Unscharf bleibt hingegen, warum der Herrschaftsantritt Wilhelms I. konsequent nach dem Vorbild der ersten preußischen Krönung inszeniert wurde und welche Bedeutung dies aktuell entfaltete. Die Begründung, dass die - vom Ministerium forcierte - Alternative ohne den neuralgischen Schwur auskam, greift hier eindeutig zu kurz. Immerhin bemühte sich der König selbst um eine exklusive Deutung seiner Selbstkrönung, die er in flankierenden Reden nachdrücklich erläuterte. Die Beobachtung als solche verweist dabei nicht nur auf monarchische Strategien, dem Verlust an Expressivität und Deutungskontrolle entgegenzuwirken. Sie tangiert zudem einen anderen, ungeklärten Punkt: Die Frage, warum die zeremonielle Gestaltung von Herrschaftsantritten auch nach dem Verlust der Rechtsverbindlichkeit noch politisch bedeutsam blieb und worin jene Bedeutung - vom grundsätzlichen Darstellungszwang abgesehen - konkret bestand.
Zur Klärung jener Aspekte hätte es einer Quellenanalyse jenseits abstrakter Schablonen bedurft - eines dezidiert geschichtswissenschaftlichen Arbeitens wie es der noch unveröffentlichten, zweiten Arbeit zum Thema vorbehalten scheint. [2] Andres' Studie überzeugt einstweilig durch erstklassige Theoriekenntnisse, erhellende Lyrikanalysen und den Beweis, dass Huldigungsgedichte mehr sind, als Textquellen für politische Deutungen. Historikern bietet sie jedoch mehr Anregungen als Antworten.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Johannes Paulmann: Pomp und Politik. Monarchenbegegnungen in Europa zwischen Ancien Régime und Erstem Weltkrieg, Paderborn u. a. 2000.
[2] Die Dissertation wird voraussichtlich im Mai 2007 erscheinen: Matthias Schwengelbeck: Zeremonielle Politik. Huldigungs- und Inthronisationsfeiern im langen 19. Jahrhundert.
Jan Andres: "Auf Poesie ist die Sicherheit der Throne gegründet". Huldigungsrituale und Gelegenheitslyrik im 19. Jahrhundert (= Historische Politikforschung; Bd. 4), Frankfurt/M.: Campus 2005, 342 S., ISBN 978-3-593-37854-1, EUR 34,90
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