Die neue Ausgabe des Jahrbuchs für Historische Kommunismusforschung hat zwei Schwerpunkte, die historischen Jahrestagen gewidmet sind: Etwa ein Drittel des Bandes bezieht sich auf das ereignisreiche Jahr 1956. Sieben Beiträge sind unter dem Titel "Fünfzig Jahre XX. Parteitag, Polnische Krise und Ungarische Revolution" zusammengefasst. Und das "Forum" ist überschrieben "Siebzig Jahre Moskauer Prozesse und 'Großer Terror'". Einer der spektakulärsten Höhepunkte der terroristischen stalinistischen Herrschaft und ein Schlüsseljahr in der schrittweisen Abkehr vom Stalinismus, der sich mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs über Mittel- und Osteuropa ausgedehnt hatte, bestimmen also diesmal die Kontur des "Jahrbuches", das darüber hinaus in bewährter Manier eine Fülle interessanter Einzelstudien sowie den nützlichen "International Newsletter of Communist Studies" enthält.
Lange Zeit haben die Moskauer Schauprozesse gegen Angehörige der alten bolschewistischen Elite, die im August 1936 mit der Strafsache gegen das "Trotzkistisch-sinowjewistische terroristische Zentrum" begannen, das Bild des stalinistischen Terrors maßgeblich bestimmt. Schon allein die Tatsache, dass alte Kampfgefährten Lenins wie Grigorij Sinovev und Lev Kamenev - mit denen zusammen Stalin nach dem Tode Lenins Mitte der 20er-Jahre im Politbüro Trockkij ausmanövriert hatte - nun als eingeschworene Feinde der Sowjetmacht entlarvt wurden, war sensationell. Die sowjetische Propaganda tat ein Übriges, um die justitielle Delegitimierung der Konkurrenten Stalins weltweit wirksam werden zu lassen. Als Nikita Chruščev im Februar 1956 in seiner "Geheimrede" auf dem XX. Parteitag der KPdSU mit Stalin und seinen verbrecherischen Machenschaften abrechnete, bedurfte es keiner propagandistischen Nachhilfe: Schnell wurde der Text zur Weltsensation. Dass eine der höchsten kommunistischen Autoritäten über kommunistische Verbrechen sprach, hatte nachhaltige Wirkung - aber nur teilweise aufklärerische, denn, wie Nicolas Werth in seinem Beitrag im "Jahrbuch" feststellt: "Die Moskauer Prozesse von 1936 bis 1938 und Chruščevs Abrechnung mit Stalin 1956 haben das Wesen und das wirkliche Ausmaß der 'repressiven Massenoperationen' in den Jahren 1937/38 verschleiert" (245). Deren tatsächliche Dimensionen seien erst nach dem Zusammenbruch der UdSSR zu Beginn der 90er-Jahre enthüllt worden. Werth gibt in seinem "Versuch einer Bilanz" der stalinistischen Repressionen einen souveränen Überblick über die seither eruierten Zahlen und Zielgruppen des Terrors. Dass Chruščev, der seinen politischen Aufstieg als Gefolgsmann Stalins gemacht hatte, in den Terror involviert gewesen war und keine grundsätzlichen Zweifel am Marxismus-Leninismus hegte, nicht mit der ganzen Wahrheit herauskam, ist letztlich allerdings weniger überraschend, als dass er die Enthüllungen überhaupt so weit getrieben hat. Im Präsidium des ZK der KPdSU fand er dafür keineswegs nur Unterstützung. Das illustrieren höchst anschaulich die von Michail Prozumenščikov im Rahmen seines Beitrags über den XX. Parteitag erstmals in deutscher Sprache publizierten Sitzungsprotokolle vom 1. und vom 9. Februar. Sehr interessant ist auch das dritte Dokument, das er anführt, eine Rede Chruščevs vor dem ZK der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei vom 20. März 1956, in der er Stalin als einen Revolutionär mit Verfolgungsmanie charakterisiert. Während er damit die revolutionäre Legitimität des Diktators bestätigt, äußert er sich geradezu vernichtend über Stalins Rolle als Außenpolitiker und Feldherr im Zweiten Weltkrieg, die im heutigen Russland von nicht wenigen hoch eingeschätzt wird: "Einige sagen: Was hättet ihr im Krieg ohne Stalin gemacht? Hättet ihr den Deutschen früher und mit weniger Blutvergießen besiegt? Ja, ich bin davon überzeugt. Und es könnte sein, dass es den Krieg überhaupt nicht gegeben hätte, dass wir eine klügere Politik gemacht hätten und [den Krieg] vermieden hätten." (65).
In der Sektion über die Schauprozesse und den Großen Terror geht Fridrikh Firsov mit der revisionistischen und neo-revisionistischen Literatur ins Gericht und betont, wie dies auch Leonid Luks in seinem Beitrag über den Stalin-Kult und den Terror tut, die neuen Erkenntnisse über die systematische Planung der Massenverbrechen und die Rolle der Führerdiktatur. Weniger überzeugend ist dagegen Robert V. Daniels Aufteilung der sowjetischen Geschichte in eine hyperrevolutionäre Phase bis 1933 und eine darauf folgende mehr oder weniger konterrevolutionäre. Wer den Terror in seiner ganzen Breite zur Kenntnis nimmt, was Daniels unterlässt, wird in den Massenoperationen der Jahre 37/38 viele Kontinuitäten zum Kollektivierungsterror der Jahre 1929-32 finden.
Die zwei Jahrzehnte später einsetzende Entstalinisierung löste die größten Erschütterungen bekanntlich in Ungarn aus, wo der Aufstand schließlich mit stalinistischen Mitteln niedergeschlagen wurde. Hierzu bringt das neue "Jahrbuch" einen Überblicksartikel von Janos M. Rainer über die Determinanten und Spielräume des Landes im Schatten der Sowjetunion von 1944 bis 1990 und einen Aufsatz von Árpád von Klimó über den Stellenwert von "1956" in der ungarischen Geschichtskultur. Von Klimó macht darauf aufmerksam, dass der Jahrestag des Beginns des Aufstandes von 1956 im Jahr 1989 zum ungarischen Staatsfeiertag erklärt wurde, während in Deutschland kurz darauf der 17. Juni, der an den Aufstand von 1953 in der DDR erinnerte, als Staatsfeiertag abgeschafft wurde. Die Verankerung von "1956" in der nationalen Tradition wird durch die Parallelisierung mit der Revolution von 1848/49 unterstrichen, nichtsdestoweniger entzünden sich am neuen Gedenktag heftige geschichtspolitische Kontroversen.
Nach der Niederschlagung des 17. Juni drei Jahre zuvor blieb es in der DDR 1956 ruhiger als in Ungarn und auch in Polen, wo, wie Łukasz Kamίnski zeigt, die Arbeiterunruhen von Poznań etwa auch in Niederschlesien einen kräftigen Widerhall fanden. Er erläutert auch knapp die Gründe, die Polen davon abhielten, den Schritt zu einer antikommunistischen Revolution wie in Ungarn zu tun. In der DDR fand dagegen nicht einmal ein Personalwechsel an der Spitze der Partei statt. Die Gründe dafür veranschaulicht Ilko-Sascha Kowalczuk. Was "1956" für den deutschen Kommunismus bedeutete, wird schließlich in einem Gespräch von Ulrich Mählert mit Ralph Giordano und Wolfgang Leonhard vertieft.
Dass der "13" ihr schlechter Ruf ganz zu Unrecht anhaftet, demonstriert die dreizehnte Ausgabe des "Jahrbuches", das nicht nur in bewährter Form die Entwicklung der internationalen Kommunismusforschung widerspiegelt, sondern mit seinen beiden Schwerpunkten zum stalinistischen Terror und zur Entstalinisierung eine besonders hohe inhaltliche Geschlossenheit erreicht hat, ohne den thematischen Pluralismus, der sich in einer hier nicht zu erfassenden Fülle weiterer Beiträge niederschlägt, aufzugeben.
Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2006, Berlin: Aufbau-Verlag 2006, 480 S., 21 Abb., ISBN 978-3-351-02686-8, EUR 75,00
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.