Menschenrechte stellen einen bedeutsamen Faktor in der gegenwärtigen Weltpolitik dar. Wenn sich dabei nicht selten unterschiedliche Auffassungen ergeben, hängt dies zum Teil damit zusammen, dass die Begründung von Menschenrechten (und damit ihre Legitimität) nicht ganz so selbstverständlich ist, wie sie zu sein scheint. Historiker und Philosophen können hier aufklärend wirken, die einen, indem sie der Frage nach der Entstehung und der Herausbildung diesbezüglicher Gedanken und Konzepte nachgehen, die anderen, indem sie erörtern, welche der in der Vergangenheit gegebenen Begründungen für unsere aktuellen Debatten noch brauchbar sein können.
Dass die amerikanische Verfassung und die Französische Revolution Marksteine der Entwicklung darstellen, darüber herrscht Konsens. Kontrovers wird hingegen beurteilt, wie weit davor Wurzeln und Vorstufen in die Vergangenheit zurückreichen. Man hat beispielsweise in John Locke (Second Treatise on Government, 1689) den "Erfinder" der Grundrechte gesehen; aber auch eine Schrift wie De legibus seu legislatore Deo von Francisco Suarez (1612) sollte daneben nicht vergessen werden. Auf der anderen Seite hat man dem abendländischen Mittelalter entscheidende Impulse zugeschrieben, dem durch Augustinus geprägten Weltbild im Allgemeinen oder auch bestimmten gelehrten Auseinandersetzungen im Besonderen: Hervorhebung verdienen etwa die christologischen Debatten des 13. Jahrhunderts oder die kirchenrechtliche Gesetzesdiskussion zwischen 1150 und 1250. Nur wenige haben versucht, Ansätze des Menschenrechtsgedankens bis ins griechisch-römische Altertum zurückzuverfolgen. Ihnen konnte entgegengehalten werden, dass wir in dieser Geschichtsepoche allenthalben die rechtliche Ungleichheit zwischen Mann und Frau vorfinden und ebenso die selbstverständliche Realität der Sklaverei. Die Existenz von Menschenrechten ist deshalb für die Antike mit Hinweis auf die Praxis immer wieder auch entschieden bestritten worden, beispielsweise von J. Burckhardt, G. Oestreich, Chr. Meier, P. Veyne, K.-J. Hölkeskamp, W. Nippel und W. Schmale. Hier setzt der anzuzeigende Band an.
An der Universität des Saarlandes fand vom 29. bis zum 31.10.2003 ein internationales Symposion über die antiken Grundlagen der Menschenrechte statt. Die Organisation lag bei zwei Saarbrücker Hochschullehrern: dem Althistoriker Klaus Martin Girardet und dem Philosophen Ulrich Nortmann. Abgesehen von der Alten Geschichte (neben Girardet auch Adalberto Giovannini, Peter Siewert und Karl-Wilhelm Welwei) und der Philosophie (neben Nortmann auch Christoph Horn, Ada Neschke-Hentschke und Markus S. Stepanians) waren die Fächer Rechtsgeschichte (Tiziana Chiusi und Giuliano Crifò), Klassische Philologie (Hubert Cancik), Katholische Theologie (Konrad Hilpert und Bischof Reinhard Marx) und Evangelische Theologie (Eilert Herms) durch Vorträge vertreten. Das Anliegen der Tagung war ein doppeltes: Fachwissenschaftlich sollte sie auf die griechisch-römische Antike bezogen sein, aber die Relevanz sollte sich durchaus auch auf unsere Gegenwart und Zukunft erstrecken, nicht zuletzt im Sinne eines Beitrags zum europäischen Selbstverständnis. Das gegenwärtige Europa könne nur konsensfähig gemacht werden, wenn man über die rein ökonomische Legitimierung hinauskomme, betonte Margret Wintermantel (damals noch Präsidentin der Universität des Saarlandes, heute Vorsitzende der Hochschulrektorenkonferenz) in ihrer Ansprache zu Beginn der Tagung (16 f.). Die politische Bedeutung der Konferenz wurde unterstrichen durch Eröffnungsworte des saarländischen Ministerpräsidenten Peter Müller (12-14).
In dem 2005 erschienenen Tagungsband sind die Vorträge der oben genannten Referenten samt den Grußworten zur Eröffnung der Veranstaltung abgedruckt. Erweitert wird die Reihe durch einen Text des Althistorikers Richard Bauman, der nicht nach Saarbrücken reisen konnte ("The Global Village in Ancient Rome and in Modern Times"). Die Beiträge (bis auf zwei Ausnahmen alle in deutscher Sprache) sind in drei Gruppen gegliedert: In einem ersten Teil wird nach normativen Ansprüchen im griechisch-römischen Altertum und nach der durch das römische Recht konstituierten Lebenswelt gefragt; in einem zweiten Teil werden menschenrechtliche Ansätze in verschiedenen Zeitaltern miteinander verglichen; im dritten Teil liegt der Schwerpunkt auf der Herleitung grundrechtlicher Normen. Da diese gliedernden Gesichtspunkte vielfältige Beziehungen untereinander aufweisen, konnten Überschneidungen in der thematischen Behandlung nicht ganz vermieden werden (das gilt z. B. für die Stichworte Barbaren, Freiheit, Gleichheit, ius naturale, Menschenwürde, Religionsfreiheit, Sklaverei, Widerstandsrecht). Ein 7-seitiges Register stellt ein nützliches Hilfsmittel dar (ein dort vorkommendes Stichwort "Ypsilon", mit vielen Bezugsstellen, bleibt dem Leser allerdings rätselhaft).
Es handelt sich bei diesem Band um eine interdisziplinäre Publikation, wobei der Schwerpunkt dann doch ein historischer ist: Sieht man von philosophisch-theologischen Überlegungen zum Problem, wie sich Begründungen für Menschenrechte allgemein gültig formulieren lassen, ab, so steht die Frage im Zentrum, wie man in vergangenen Epochen dachte und handelte. Die Methode des Vergleichens, durch die das historische Detail an Profil gewinnt, bedient sich dabei sowohl der juristischen Spezifizierung als auch der genauen philologischen Begriffsdeutung im jeweiligen Kontext.
Für die Antike ergibt sich im Gegensatz zu verbreiteten Ansichten eine bemerkenswerte Anzahl von Quellenbelegen, in denen Elemente menschenrechtlicher Ideen greifbar werden. Dazu gehört vieles, was aus dem Nachdenken über die Natur und die Bestimmung des Menschen erwachsen ist. Der Eindruck verstärkt sich noch, wenn man mit Hilpert (158) u. a. davon absieht, die christliche Tradition gegenüber der klassisch-antiken als eine eigene Sparte zu isolieren (so als ob Gleichzeitiges gar nichts miteinander zu tun habe und als ob Klemens von Alexandrien, Tertullian, Lactantius oder Augustinus nicht sehr stark auf bestimmte Prinzipien der griechischen Philosophie Bezug genommen hätten). Selbst bei einem Autor wie Aristoteles, der noch in der Frühen Neuzeit als Autorität für die These, Barbaren seien von Natur aus Sklaven, in Anspruch genommen wurde (vgl. 150) und der auch wegen eines perfektionistischen Staatsverständnisses hier nur wenig in Betracht zu kommen scheint, kann man fündig werden (vgl. Horn 105-122, der in Politik und Nikomachischer Ethik ein Konzept subjektiver natürlicher Rechte nachweisen kann).
Freilich muss bei dieser Art von Spurensuche zweierlei bedacht werden: Terminologische Differenzierung ist immer vonnöten; auch modern klingende Wendungen gerade im Lateinischen (ius humanum, dignitas hominis, libertas religionis, tolerantia) müssen auf ihren Kontext hin genau überprüft werden (vgl. Cancik 94-104). Die politische und soziale Realität des Altertums war weit entfernt von einer befriedigenden Verwirklichung idealer Forderungen - auch wenn all das, was Siewert in seinem Beitrag (einer erweiterten Fassung seines Artikels "Menschenrechte" im 'Neuen Pauly' VII, Sp. 1258-1261) an antiken Parallelen zur UNO-Menschenrechtsdeklaration von 1948 zusammenträgt, doch in kulturvergleichender Perspektive höchst beachtlich bleiben dürfte und auch wenn durch die Entwicklung des römischen Rechts Erstaunliches erreicht wurde (Chiusi zeigt auf, wie sehr etwa der praetor peregrinus und das ius gentium die insgesamt so erfolgreiche Integration von Fremden in das Imperium Romanum gefördert haben; Welwei erläutert, wie auch die Sklaverei in ihrem Verhältnis zum ius naturale von römischen Juristen mehr und mehr problematisiert worden ist; Giovannini weist nach, dass die weithin akzeptierte Mommsensche Ansicht, es hätten die römischen Magistrate etwa im Bezug auf die Christenverfolgungen schrankenlose Befugnisse besessen, unhaltbar ist).
Im Übrigen erweisen sich die Menschenrechte und Grundfreiheiten insgesamt auch als ein durch und durch abendländisches Phänomen. Dies wird schon durch die Formulierung des Buchtitels unterstrichen (vgl. auch 10). Freilich wird Girardets Feststellung, im Kern der europäischen Identität stehe der individualistisch, rationalistisch und rechtsstaatlich ausgerichtete Menschenrechtsgedanke (31), nur partiell wirklich weiter verfolgt (etwa in der Beschreibung des spezifisch abendländischen Widerstandsrechts; 161-182). Ansonsten wird das Thema "europäische Identität" nicht so vertieft, wie man es von der Einleitung des Bandes her erwarten mochte.
Wenn wir Geisteswissenschaften mit Girardet als auf Werte bezogene, Werte erarbeitende und Werte vermittelnde Orientierungswissenschaften verstehen (10), dann leisten mehrere Beiträge dieses Bandes Vorzügliches im Blick auf dieses Ziel. Eine Gegenwart, in der sich die Normativität von Menschenrechten weltweit allein aus Vernunftgeboten heraus legitimieren lässt, wird nur zu ihrem eigenen Schaden über das hinwegsehen können, was uns frühere Epochen an Erörterungen der Fragen nach dem Wesen des Menschen und nach der Verwirklichung von Gerechtigkeit zur Verfügung gestellt haben.
Klaus M. Girardet / Ulrich Nortmann (Hgg.): Menschenrechte und europäische Identität. Die antiken Grundlagen, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005, 301 S., ISBN 978-3-515-08637-0, EUR 60,00
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