Nichts im Titel dieses sorgfältig edierten Bändchens verweist auf die Zeitstellung und den eigentlichen Inhalt der Erinnerungen eines preußischen Soldaten, der zunächst als Kürassier den Untergang der altpreußischen Armee 1806 bei Jena und Auerstedt miterlebte und in gleicher Funktion an den Feldzügen von 1813 bis 1815 teilnahm. In dieser behutsamen Herangehensweise liegt das große Verdienst der beiden Editoren dieses wichtigen Selbstzeugnisses. Im Vordergrund steht die Quelle (5-129), der ein editorischer Bericht (130-131) und ein Nachwort zur Einordnung des Textes folgen (132-170).
Die Militärgeschichte, so viel sei vorweggenommen, ist nicht das Metier der Editoren, die die Stellung des Textes kompetent und sachkundig innerhalb der Gattung der Selbstzeugnisse und der Sprachgeschichte verorten. Ganz in diesem Sinne haben sie sich jedes Eingriffs in das Original enthalten und die Aufzeichnungen "vollständig und in Orthografie und Interpunktion diplomatisch getreu im Druck wiedergegeben" (132). Einzig Verweise auf die im Original nicht gezählte Paginierung wurden weggelassen.
Das Einzigartige des hier zu besprechenden Selbstzeugnisses liegt in der Tatsache begründet, dass es sich um die Lebensgeschichte eines einfachen Soldaten handelt, der beides, Fall und Wiederaufstieg des preußischen Militärs an der Schwelle zum 19. Jahrhundert buchstäblich durchlitt. 1787 in Neuhaldensleben geboren, wurde er 1803 durch das Kantonsystem zum Leibcarabinier Regiment (Kürassierregiment Nr. 11) ausgehoben. Als unfreiwilliger Hannoveraner fand er sich nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft 1809 freiwillig wieder in preußischen Diensten ein und nahm an den Feldzügen 1813-1815 teil.
Bei der Kommentierung der Quelle haben sich die Herausgeber auf Ortsnamen und Begrifflichkeiten beschränkt, die sich dem modernen Leser nicht auf Anhieb erschließen und zur Verständlichkeit des Textes beitragen. Weitergehende Erläuterungen wurden in das Nachwort ausgelagert. Bei der Kommentierung schöpfen die Editoren jedoch in erster Linie aus sprachwissenschaftlichen Werken, was zwar hilfreich ist, für den des Militärwesens des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts unkundigen Leser in einigen Fällen jedoch nicht unbedingt zur Erhellung beiträgt. Ins Auge fallen hierbei die der französischen oder italienischen Sprache entlehnten militärischen Fachbegriffe der Zeit.
Gleiches gilt auch für das Nachwort der Editoren, in dem sie sich mit der Einordnung der Quelle befassen. Hierbei ist die sprachwissenschaftliche Einordnung der Quelle auch in den aktuellen Forschungszusammenhang ausdrücklich gelungen und hervorzuheben. Für die historisch/militärhistorische Einordnung lässt sich dies nicht uneingeschränkt feststellen. Unter den Gesichtspunkten "Invalidenhaus", "Heimat: Der Handschuhmacher", "Kriegsschauplätze: Der Soldat" wird der Bogen bis zur "Lebensgeschichte: Der arme Mann von Neuhaldensleben" schließlich mit dem wohl prominentesten Selbstzeugnis zum preußischen Militär des 18. Jahrhunderts von Ulrich Bräker in Beziehung gesetzt. [1]
Überzeugend arbeiten die Editoren hierbei die Erzählperspektive und Gegenstände Pickerts heraus, der sich weniger der Geschichte der großen Kriege und Schlachten widmet, sondern das Geschehen als "Körpergeschichte" des eigenen Erleidens erzählt (160). Diese kreist vor allem um die elementaren Bedürfnisse des Soldaten Pickert: die Sorge um die tägliche Verpflegung, die Sehnsucht nach familiärer Geborgenheit und die Erfüllung sexueller Bedürfnisse, die immer wieder andeutungsweise hervortreten. Er referiert das, was ihn unmittelbar betrifft und bewegt. Pickert wollte sich allem Anschein nach sehr bewusst von der populären Literatur zu den Feldzügen der Befreiungskriege absetzen (5).
Pickert verstand sich als Preuße und wies eine starke Bindung an den Sozialverband "seines" Regiments auf, zu dem er auch nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrte. Nationales Pathos oder Franzosenhass sind Pickert fremd. "Auch von dem in der Geschichtswissenschaft konstatierten 'Rückbezug auf den Freiheitskampf gegen Napoleon', der 'ein konstitutives Element der nationalen Begeisterung' wurde, liefert Pickerts Text keinen Beleg." (157)
Entsprechend der älteren Forschungsliteratur zum preußischen Militär räumen die Herausgeber dem Kantonsystem einen prägenden Charakter für die preußische Gesellschaft des 18. Jahrhunderts ein. Die Konsultation einer militärwissenschaftlichen Enzyklopädie hätte die Herausgeber in dieser Hinsicht jedoch vor einigen durchaus gravierenden Fehlinterpretationen bewahrt, wenn sie etwa den Begriff "Kantonierungs-Quartier" als einen Schlüsselbegriff für den militärgeschichtlichen Kontext lesen (152). So bestand auch nicht die "wichtigste Aufgabe der Kantone [...] in der Bereitstellung der Quartiere" (154), sondern in der Bereitstellung von Rekruten, bei der die Regimenter jedoch spätestens nach 1763 keineswegs "freie Hand" hatten (153). [2] Die sprachwissenschaftliche Nähe zwischen Kantonsystem und Kantonierung ist zwar durchaus gegeben, doch ging das Zweite nicht - wie von den Herausgebern postuliert - aus dem ersten hervor. "Kanton" steht in diesem Zusammenhang lediglich für Bezirke. Der Aushebungskanton eines Regiments in der preußischen Monarchie hat nichts mit Kantonieren im militärischen Sprachgebrauch des 18. und 19. Jahrhunderts zu tun. Letzteres steht für den Raum, in dem eine militärische Formation außerhalb der Garnison bei der "Kantonierung" unter "Dach und Fach" untergebracht ist, also nicht im Biwak oder Feldlager. Im hier relevanten Zusammenhang bedeutet schließlich "Quartier" die Unterbringung von Soldaten bei Landeseinwohnern im Gegensatz zur Unterbringung in Kasernen. Kantonsystem, Kantonierung und Quartier sind je einzelne Phänomene, von denen allenfalls ersteres mit starken Einschränkungen als typisch preußisch bezeichnet werden kann. Kantonierung und Quartier sind gemeineuropäische Erscheinungen stehender Heere des 18. Jahrhunderts, die, wenn sie auf Feldzügen nicht unmittelbar in Gefechtsbereitschaft lagen, vor allem in Hinblick auf Regenerationsmöglichkeiten oder im Winter kantonierten. Die Unterbringung von Soldaten in Friedenszeiten in Quartieren statt Kasernen stellte zu dieser Zeit in Europa eher die Regel als die Ausnahme dar.
Wenn diese Begriffe in den Erinnerungen Pickerts so häufig auftauchen, so vor allem deshalb, weil sie unmittelbar über das Wohlergehen des Soldaten entschieden. In Krieg und Frieden war ein anständiges Quartier eine Grundvoraussetzung für ein einigermaßen erträgliches Leben. Dass sich Quartiergeber und -nehmer hierbei das Leben gegenseitig zur Hölle machen konnten, wissen wir aus der Forschung zur Genüge, jedoch musste sich ihr Zusammenleben nicht immer spannungsgeladen gestalten, wie die Erinnerungen Pickerts bestätigen.
Dass die Kleinhandwerker in den brandenburg-preußischen Städten des 18. und frühen 19. Jahrhunderts keinen hohen "sozialen Status" einnahmen, ist zwar zutreffend; warum aber sie, die unbestritten die Masse der Stadtbevölkerung ausmachten, eine "soziale Randschicht" dargestellt haben sollen, ist schlicht unverständlich. Hier wäre dann auch das allfällige Diktum zu hinterfragen, ob es für diese von der Rekrutierung betroffenen Schichten tatsächlich einem "sozialem Abstieg gleichkam, wenn ein junger Mann Soldat werden musste" (155).
Für die Alltagsgeschichte des preußischen Militärsystems stellen die Erinnerungen Pickerts eine Quelle von außerordentlichem Rang dar. Sei es für das Arrangement der Bevölkerung mit der Heeresaufbringung durch das Kantonsystem in der Abenddämmerung der altpreußischen Monarchie, sei es für die persönlichen Sorgen, Nöte und Gefährdungen eines einfachen Soldaten, dessen Körper auf einem Feldzug mindestens in gleichem Maße durch Hunger und Lagerkrankheiten gefährdet war, wie durch Kampfhandlungen. Diese auch für einen Soldaten eher exzeptionellen Ereignisse eines Feldzuges hat Pickert allem Anschein auch selbst nicht verarbeitet und war weit davon entfernt sie adäquat zu beschreiben.
Die hier vor allem aus Sicht militärgeschichtlicher Probleme vorgebrachten Einwände sollen nicht das hohe Verdienst der Herausgeber schmälern, dieses herausragende Selbstzeugnis der Forschung und dem interessierten Leser in dieser stark am Original orientierten Form zugänglich gemacht zu haben. Die sorgfältige Edition der Erinnerungen Johann Christoph Pickerts ist aus Sicht einer Alltagsgeschichte des preußischen Militärs des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts kaum hoch genug einzuschätzen. Der Leser ist jedoch gut beraten, gerade in Bezug auf die Zusammenhänge mit dem preußischen Militärsystem und der Alltagsgeschichte des Soldaten dieser Zeit die inzwischen erfreulich angewachsene Auswahl an neuerer Literatur ergänzend zu Rate zu ziehen.
Anmerkungen:
[1] Für die neuere Bräkerinterpretation zentral: Jürgen Kloosterhuis: Donner Blitz und Bräker. Der Soldatendienst des 'armen Mannes im Tockenburg' aus der Sicht des preußischen Militärsystems, in: Alfred Messerli / Adolf Muschg (Hg.): Schreibsucht. Autobiografische Schriften des Pietisten Ulrich Bräker, Göttingen 2004, 129-187.
[2] Zur Entwicklung des Kantonsystems und der neueren Forschung: Martin Winter: Untertanengeist durch Militärpflicht. Das preußische Kantonsystem in brandenburgischen Städten im 18. Jahrhundert, Bielefeld 2005. Vgl. hierzu die Rezension von Michael Hochedlinger in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 3 [15.3.2006]; URL: http://www.sehepunkte.de/2006/03/8798.html
Johann Christoph Pickert: Die Lebensgeschichte des Johann Christoph Pickert. Hrsg. v. Gotthardt Frühsorge, Christoph Schreckenberg, Göttingen: Wallstein 2006, 172 S., ISBN 978-3-8353-0037-8, EUR 19,00
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