Lange Zeit wurde die Mediengeschichte der Politik- und Kommunikationswissenschaft überlassen, nun hat sie in den letzten Jahren endgültig Einzug in die Geschichtswissenschaft gehalten. Mittlerweile kann man von einer regelrechten Konjunktur der Mediengeschichte sprechen - Buchveröffentlichungen, Themenhefte von einschlägigen Fachzeitschriften und wissenschaftliche Konferenzen zeugen davon. Mediengeschichte wird dabei als integraler Bestandteil einer Politik-, Sozial- und Kulturgeschichte mit dem Schwerpunkt auf dem 19. und 20. Jahrhundert verstanden. Besonders im Bereich der neueren Politikgeschichte spielen mediengeschichtliche Fragestellungen eine zentrale Rolle - was vor dem Hintergrund einer zunehmenden Medialisierung der Politik kaum verwundert. Dem Spannungsfeld von Politik und Medien im 20. Jahrhundert widmet sich auch ein von Frank Bösch und Norbert Frei herausgegebener Sammelband. Die Herausgeber betonen, dass sie durch die Einbeziehung mediengeschichtliche Fragestellungen für einen Perspektivenwechsel zu einer neueren Politik- und Kulturgeschichte plädieren - ein Prozess der längst in vollem Gange ist.
Als Ausgangsthese für den Band wird in der Einleitung durch die Herausgeber formuliert, "dass historische Fortschritte in der medialen Entwicklung zwar zu Politisierungsschüben führten und damit auf die Vorstellungen von dem Politischen oder der Gesellschaft einwirkten, dass diese Veränderungen jedoch nicht notwendigerweise dem normativen Ideal von Demokratie entsprachen" (8). Dass Medialisierung und Demokratie keine Zwangsläufigkeit sind, steht angesichts der beschleunigten gesteuerten medialen Durchdringung der Gesellschaft während des 'Dritten Reiches' wohl kaum außer Frage. Dass im Mittelpunkt des vorliegenden Bandes die Frage nach den Ambivalenzen des Verhältnisses von Medialisierung und Demokratie in der Längsschnittperspektive des 20. Jahrhunderts steht, ist wünschenswert, da besonders mit Blick auf die Zwanziger- und Fünfzigerjahre deutlich wird, dass auch in einer demokratischen Staatsform, die für die Sechzigerjahre konstatierte Demokratisierung und Liberalisierung nicht zwangsläufig mit einer verstärkten Medialisierung von Politik und Gesellschaft einhergehen muss.
Der Band versammelt acht chronologisch angeordnete Beiträge, wovon nur zwei der Zeit vor 1945 gewidmet sind. Quasi einen zeitlichen Vorlauf bietet der erste Beitrag von Frank Bösch mit dem Titel: "Katalysator der Demokratisierung? Presse, Politik und Gesellschaft vor 1914". Obwohl, wie Bösch richtig bemerkt, das Kaiserreich keine Demokratie war, gab es in der deutschen Gesellschaft vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges durchaus politische Dynamiken, die Demokratisierungstendenzen förderten. Welche Rolle die Presse in diesem Prozess einnahm, dieser Frage geht Bösch nach. Dabei beschränkt er sich auf die seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts aufkommende Massenpresse. Der Autor kommt zu dem Schluss, dass die Massenpresse "allein durch ihre mediale Struktur demokratisierend wirkte" (46). Dies geschah auf mehreren Ebenen: Die Massenpresse unterminierte staatliche Kontrollmaßnahmen, förderte eine "kommunikative politische Partizipation" und stärkte die Stellung von Reichtag und politischen Parteien. Gleichzeitig konstatiert Bösch, dass die Medialisierung die Selbstdarstellung und Kommunikation der politischen Elite veränderte.
Demgegenüber kommt Bernhard Fulda in seinem Beitrag über die Boulevard- und Massenpresse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren zu dem Schluss, dass es in der Zwischenkriegszeit keinen kausalen Zusammenhang zwischen "Medialisierung" und "Demokratie" gab (72).
Matthias Weiss befasst sich mit der Medien- und Informationspolitik der Regierung Adenauer, die er als "post-volksgemeinschaftlich" kategorisiert - bei allen restaurativen Tendenzen doch eine äußerst fragwürdige Charakterisierung der Adenauer-Ära und ihrer Medienpolitik, die auf vielen Feldern ausgesprochen "modern" war. Weiss kommt zu dem nachvollziehbaren Schluss, dass die Versuche die Herausbildung einer kritischen Öffentlichkeit zu verhindern, das Gegenteil bewirkten und einer solchen Entwicklung eher Vorschub leisteten.
Einige konkrete Fallbeispiele folgen: Ein Beitrag über das Kulturradio der Fünfzigerjahre (Monika Boll), dem Verhältnis von Medien und Partizipation in der katholischen Kirche (Benjamin Ziemann) sowie zur Fernsehberichterstattung über den 2. Juni 1967 - dem Tag des Schahbesuches und der Ermordung Benno Ohnesorges (Meike Vogel).
Anja Kruke untersucht die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik etablierende Meinungsforschung und liest sie als neue Form der Demokratievermittlung. Meinungsumfragen hätten eine Vermittlerposition zwischen Bürger und Politik eingenommen, die politische Selbstdarstellung verändert und die direkte Kommunikation zwischen Bevölkerung und Partei - in diesem Fall der SPD - befördert. Als Beispiele dienen vor allem die Bundestagswahlkämpfe 1961 und 1965 sowie die Zeit dazwischen, die unter dem Motto "Das große Gespräch" firmierte. Dass die Meinungsforschung eine wichtige Rolle bei Veränderungen in der politischen Praxis der Parteien eingenommen hat, steht wohl außer Zweifel. Allerdings sollte für die Sechzigerjahre im Gegensatz zu heute ihre Rolle auch nicht überbewertet werden, denn insbesondere bei der deutschen Sozialdemokratie befand man sich auf diesem Feld noch in der Experimentierphase.
Abgeschlossen wird der Band mit den Ausführungen von Thomas Mergel über "Demokratie als Reklame. Der Bürger in den Werbefilmen zur Bundestagswahl". Mergel nimmt die Zeit bis 1998 in den Fokus. Es geht ihm dabei um das Konzept des "Bürgers" in den Werbespots der Parteien. Wie kaum anders zu erwarten, unterlag dieses Bild im Laufe der Jahrzehnte und von Partei zu Partei unterschiedlichen Wandlungen. Für die Fünfzigerjahre konstatiert er große Unterschiede zwischen den beiden großen Parteien: die CDU propagierte den zufriedenen Wohlstandsbürger, die SPD den politisch interessierten kritischen Aktivbürger. Seit Beginn der Sechzigerjahre sieht Mergel dann eine Annäherung der Darstellungsformen. Ob das für die Inhalte auch stimmt, muss wohl eher verneint werden. Die SPD zeichnete das Bild eines selbstbewussten Bürgers, der nach mehr politischer Partizipation strebte und diese durch ein aktives politisches Engagement, u. a. in der "Sozialdemokratischen Wählerinitiative", auch in die Praxis umsetzte. Die CDU hingegen hing auch noch in den Sechzigerjahren dem Bild eines zufriedenen Bürgers an, der Politik im vollen Vertrauen weitgehend der Bundesregierung überlassen sollte. Eine dritte Phase verortet Mergel seit den Achtzigerjahren, in denen der politisch aktive Bürger wieder in den Hintergrund trat und eher "zur Dekoration" für den in der Menge badenden Kanzler bzw. Kanzlerkandidaten mutierte. In Bezug auf das Verhältnis von Medien und Demokratie kommt Mergel zu dem Schluss, dass "der multimediale Schub seit den frühen achtziger Jahren [...] bis weit in die neunziger Jahre keineswegs eine Demokratisierung der politischen Ikonographie befördert" hat (271). Auch hier wird, wie in allen Beiträgen, die eingangs formulierte und wohl nicht aufzulösende Ambivalenz im Verhältnis von Politik und Massenmedien, von Medialisierung und Demokratie herausgestrichen.
Insgesamt wird ein bunter Strauß des großen Spektrums des ambivalenten Spannungsverhältnisses von "Medialisierung und Demokratie" entfaltet. Allerdings kann es sich dabei nur um Streiflichter eines breiten, längst noch nicht umfassend erforschten und immer noch aktuellen Themas handeln.
Frank Bösch / Norbert Frei (Hgg.): Medialisierung und Demokratie im 20. Jahrhundert (= Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts; Bd. 5), Göttingen: Wallstein 2006, 279 S., ISBN 978-3-8353-0072-9, EUR 28,00
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