Als im Gefolge des Wiener Kongresses das Rheinland, seit 1822 verwaltungsmäßig zur "Rheinprovinz" zusammengefasst, an Preußen gefallen war, war es ein Ziel der zuständigen (Mittel-)Behörden, mithilfe so genannter "Medizinischer Topographien" eine Art umfassender Beschreibung der einzelnen Kreise und damit schließlich des gesamten neu- und wiedererworbenen Landes zu gewinnen. Der Begriff einer solchen Medizinischen Topografie war seit 1782 in Gebrauch und verweist somit zurück in das Zeitalter der (Spät-)Aufklärung mit seinen Charakteristika der statistischen Erfassung, der "Meliorationen", der Volkserziehung und ganz allgemein der "Verbesserung". Die noch junge Gattung der Landesbeschreibung hatte die Aufgabe, in Form einer geschlossenen Darstellung einen Überblick über die geografischen Gegebenheiten des Landes, die allgemeinen gesundheitlichen und hygienischen Verhältnisse, über die Charakteristika der örtlichen Bevölkerung und nicht zuletzt auch über deren "moralischen Zustand" zu geben; mit der Anfertigung waren naturgemäß amtlich bestallte Ärzte betraut.
Mit Verordnung vom Dezember 1824 trug die Kölner Regierung den zuständigen Kreisärzten der elf Landkreise ihres Bezirks auf, innerhalb des nächsten halben Jahres eine Medizinische Topografie für ihren Kreis anzufertigen und nach Köln abzugeben; die inhaltlichen Kriterien der Bestandsaufnahmen waren dabei vorgegeben. Angesichts der knapp bemessenen Frist und der umfangreichen Aufgaben, die ein solcher Kreisarzt in seinem Distrikt zu verrichten hatte, verwundert es nicht, dass alle Berichte nur mit Verzögerung eingingen. Der Kreisarzt des Bergheimer Kreises, Johann Georg Müller (1780-1842), fiel der Regierung dabei besonders durch ständiges Verschieben auf; angesichts seines Arbeitspensums, wie es Sabine Graumann in der Vorbemerkung zu ihrer Edition beschreibt, kann das jedoch kaum verwundern, zumal Müller in Teilen auf die Zuarbeit anderer angewiesen war. Das Ergebnis reichte er schließlich erst 1830 ein, immer noch unvollständig, weil er das letzte Kapitel zum Medizinalwesen leider einfach wegließ.
Die Medizinische Topografie des Kreises Bergheim ist gegliedert in vier Abschnitte: "Beschaffenheit des Landes", "Physischer und moralischer Zustand der Einwohner", "Krankheitszustand der Einwohner" und "Tabellen". Im ersten Abschnitt werden das Klima, die Boden- und Wasserbeschaffenheit sowie Flora und Fauna, Letztere beiden mit umfangreichen lateinisch-deutschen Auflistungen ausführlich dargestellt; an dem Kapitel mag ein Forscher zur Klima- oder Umweltgeschichte größeres Interesse haben als der "normale" Historiker. Dieser kommt eher im folgenden Abschnitt auf seine Kosten, der von Kleidung, Ernährung, Lebensweise, Vergnügungen und Fortpflanzung der Landesbewohner berichtet. Alles wird detailliert beschrieben und auch kritisiert, wenn der entsprechende Brauch nicht den Ansprüchen des Arztes an eine gesunde oder moralische Lebensführung genügt: Aberglaube und abergläubische Kuren werden gerügt (147), "Auspoffierung des Busens" und Einzwängen der Taille durch Korsette missbilligt (155 f.), ebenso das Zusammenschlafen von Personen verschiedenen Geschlechts auf einem Zimmer (150). Gesundheit und Moral waren für einen Arzt wie Müller aufs Engste miteinander verbunden: Eine einfache, natürliche wie sittliche Lebensweise war für ihn grundlegende Bedingung von Gesundheit, darin erweist er sich ganz als Kind des 18. Jahrhunderts. Dem gebürtigen Kölner fallen natürlich durchaus eine gewisse Derbheit und ein Mangel an feiner Geschliffenheit beim Bergheimer auf (noch der heutige Kölner glaubt sich zu gleichem Urteil berechtigt), doch angesichts einer andernorts üblichen "Treibhauserziehung" (148), die die Kinder schon zu früh mit "heterogensten Schulfächern und anderen Fähigkeiten [...] vollpfropft" (148), erscheint ihm dies nicht eigentlich als ein Übel. Dass dem Arzt schädliche Gebräuche wie Rauchen und Schnapstrinken missfallen, liegt auf der Hand, und auch vorkommenden "Tanz-Unfug" (182) kann er nicht gutheißen. Es bedarf hier kaum des von ihm noch in älterer Schreibung benutzten Wortes "Polizey", um dem Leser zu verdeutlichen, dass Kritik und Vorschläge Müllers eben nicht nur im Zeitalter Rousseaus, sondern auch noch in der ganzen frühneuzeitlichen Welt der Polizeiordnungen, Luxusbeschränkungen und obrigkeitlichen Sittenkontrolle wurzeln.
Überhaupt kann der Leser bei der Lektüre wieder einmal feststellen, wie wenig markant die Epochengrenze 1800 in vielen Bereichen doch ist. Deutlich wird dies nicht nur in den Ausführungen zur allgemeinen Lebensweise der ländlichen Bevölkerung, sondern auch im dritten Abschnitt, der von den verschiedenen Krankheiten bei den Bewohnern des Kreises handelt. Ihre Leiden und Beschwerden dürften sich von denen vorheriger Jahrhunderte kaum unterscheiden, und die Behandlung, so fürchtet man, wird in den meisten Fällen kaum erfolgreicher gewesen sein als früher. Die größten Fortschritte in der Krankheitsbekämpfung wurden sicher weniger durch Behandlung als durch Prävention erzielt; ein Beleg hierfür mag die erleichterte Feststellung Müllers sein, dass die Blattern infolge vorgenommener Schutzimpfungen in diesem Kreis als Epidemie schon lange nicht mehr aufgetreten seien (57, 210 f.). Unter den Krankheiten werden auch "das böse Laster der Onanie" und "gewiße andere unnatürliche Laster", also wohl die Homosexualität, aufgeführt. Diese wird dabei interessanterweise für weniger entehrend gehalten als jene (213 f.), aber zum Glück, so konstatiert Müller, wisse man von beiden Übeln in der Gegend nichts. Seine in diesem Zusammenhang vorgenommene Kontrastierung von "schlüpfrigen Romanen" und "schlichten Landleuten" führt dabei einmal mehr die Anwendung des aus dem vorherigen Jahrhundert überkommenen Gegensatzpaares und Erklärungsschemas "Natur / Kultur" vor Augen.
Die Tabellen im vierten Abschnitt schließlich, dreizehn an der Zahl, bieten interessante Statistiken zu den im Landkreis vorkommenden Verbrechen, Krankheiten, Impfungen, Armenbehandlungen etc., leider jedoch nur für den Zeitraum zwischen 1820 und 1826. Um über ihren Quellenwert urteilen zu können, müsste man wissen, ob sich solche Zahlen auch aus der behördlichen Aktenüberlieferung gewinnen ließen, oder ob sie einzigartiges historisches Material bieten, wie es an keiner anderen Stelle zu finden ist.
Die vorliegende Edition der Handschrift aus dem Hauptstaatsarchiv Düsseldorf wurde von der Herausgeberin mit einer umfangreichen Einleitung und vielen Kommentierungen, Literaturangaben und einem Index ausgestattet, sodass kaum Wünsche offen bleiben. Besonders zu erwähnen ist, dass sie durch ihre Ausführungen zum Medizinalwesen im Kreis Bergheim für das Fehlen des entsprechenden Kapitels bei Müller weitgehend entschädigt. Auch wurde der Band großzügig mit historischem Bildmaterial versehen, das dem Leser Kreis und Stadt Bergheim in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts veranschaulicht. An Wert wird die vorgelegte Quelle noch dadurch gewinnen, dass auch für die angrenzenden Landkreise moderne Editionen der für sie vorliegenden Medizinischen Topografien geplant sind, sodass zusammenfassende und vergleichende Studien möglich werden. Interessant wäre es dann, vor allem zu erfahren, zu welchen Maßnahmen der Verwaltung die eingereichten Berichte tatsächlich geführt haben und in welchen Formen die medizinische Bestandsaufnahme - nach dem baldigen Tod dieser speziellen Gattung - fortgesetzt wurde. Dass Graumann selbst im Rahmen ihrer vorgelegten Edition solche Fragen noch nicht behandelt, ist jedoch verständlich und tut dem Werk keinen Abbruch.
Johann Georg Müller: Der Kreis Bergheim um 1827. Preußische Bestandsaufnahme des Landes und seiner Bevölkerung. Eingeleitet und bearbeitet von Sabine Graumann (= Studien zur Geschichte an Rhein und Erft. Band 1: Medizinische Topographien zwischen Rhein und Erft; 1), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2006, X + 276 S., 23 Abb., ISBN 978-3-412-29305-5, EUR 24,90
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.