Über Köln als Stadt des Mittelalters zu schreiben, ist in besonderer Weise Wagnis und Herausforderung: Wie kaum eine andere europäische Metropole hat Köln einen mittelalterlichen Quellenreichtum hervorgebracht, der wiederum so zahlreiche wie vielfältige Forschungsinteressen auf sich gezogen hat. Sich hier wissenschaftlich zu positionieren, erfordert in besonders hohem Maße Innovativität der Frage- und Problemstellung sowie Ausdauer bei den Kärrnerarbeiten der Wissenschaftspraxis.
Yvonne Leiverkus' Dissertationsschrift gibt zunächst weniger durch den gewählten Titel als durch dessen Design - die Buchstaben des Stadtnamens verweisen auf ein Köln-Bild (aus der Schedelschen Weltchronik) - ersten Aufschluss über den Wissenschaftskontext, in den sie ihr Buch stellt: So legt sie keine kunstgeschichtliche Arbeit über Köln-Darstellungen des Mittelalters vor, sondern eine topographiegeschichtliche Annäherung an die Stadt Köln zwischen 1300 und 1525 als "Zugang zur spätmittelalterlichen Lebenswelt" (Vorwort). Ihre Einführung setzt mit dem problematisierenden Hinweis auf den Unterschied von Denk-, Ideal- und Abbild einer mittelalterlichen Stadt ein, mithin wird hier auf die topische Gebundenheit mittelalterlicher Stadtrepräsentation hingewiesen, die aber vor allem auf ihren topographiegeschichtlichen Gehalt, auf "die Darstellung der Wirklichkeit" und auf "Aufschluß über das Leben des Menschen" (17) hin analysiert werden sollen. Vor diesem Reflexionshintergrund überrascht das einleitend angegebene Forschungsziel, die untersuchten Köln-Darstellungen als "Zusammenschau von Momentaufnahmen aus dem Kölner Leben" aufzufassen, gar eine "Geschichte des Alltags" (9) schreiben zu wollen.
Leiverkus versteht ihre Untersuchung als "Modellstudie einer spätmittelalterlichen Stadt, die durch Betrachtung, Beschreibung und Analyse eines anhand von schriftlichen und bildlichen Quellen konstruierten Stadtbildes angefertigt wird" (11). Ausgehend von ihrem Forschungsinteresse an den "Lebensbedingungen" und der "Lebensform der Menschen" entwirft Leiverkus einen ganzen Katalog von Fragestellungen in Bezug auf die Organisation der Bürgerschaft, Vorstellungen von Recht, Ordnung und Gerechtigkeit, kollektive Selbstwahrnehmung und Todesvorstellungen, Religiosität und "Sehnsüchte". Es ist allerdings kaum möglich, dass eine Monographie über das urbane Erscheinungsbild und seine spätmittelalterlichen Repräsentationen zugleich Alltagsgeschichte ('Lebensformen'), Rechts- und Wirtschaftsgeschichte, Geschichte des Imaginären und der Mentalitäten ('Sehnsüchte', 'Idee vom Tod') usw. sein kann.
Als Quellenbasis zieht Leiverkus ausschließlich ediertes Quellenmaterial heran und stützt sich insbesondere auf Hermann Keussens preisgekrönte Schrift "Topographie der Stadt Köln im Mittelalter" (Bonn 1910). Außer dem methodischen Zuschnitt ihrer Analyse der Stadtbildrepräsentation irritiert der vergegenwärtigende Duktus, der - im Wortsinne - das alte Köln erfahrbar machen will: "wir erleben Köln also wie die spätmittelalterlichen Reisenden" (11). Auf die Einführung "Auf der Suche nach einer vergangenen Stadt" in den Fragehorizont zu den Köln-Darstellungen folgen sechs Kapitel zur Topographiegeschichte ("Köln von außen und von innen", "Handel und Verkehr", "öffentlichen Bauten", Wohnhäuser der Leute", der "Sakraltopographie" und schließlich "Krankheit und Tod"), die das Erscheinungsbild einer spätmittelalterlichen Stadt mit den alltagsweltlichen Funktionskontexten ihrer Bauten zusammenführt. Jedes dieser Kapitel schließt eigens mit einer Zusammenfassung; die ganze Arbeit erhält durch Einleitung und "Epilog: Ein Bild der Stadt - ein Bild vom Leben" eine Rahmung, die die vorgelegte Studie in weiterführende Problemstellungen einordnet.
In der 'Schlussbetrachtung' werden die topographiegeschichtlichen Untersuchungen so bilanziert: "Wer diese aus ganz unterschiedlichen Lebensbereichen stammenden Eindrücke in einem Gesamtbild zusammenführt, kommt zu der Erkenntnis: Das spätmittelalterliche Leben ist öffentlich. Niemals ist man allein, jedoch stets in der Gemeinschaft mit anderen." (311) Auch wenn das Privatleben erst eine Errungenschaft späterer Jahrhunderte sein mag, vermitteln insbesondere frühneuzeitliche Ego-Dokumente, wie etwa auch die von Leiverkus herangezogenen autobiographischen Aufzeichnungen des Kölner Ratsherren Hermann Weinsberg (1518-1597), die ja gerade in der Abgeschiedenheit eines Studierzimmers entstanden sind, ein doch erheblich anders Bild. Die zitierte Erkenntnis bietet schließlich den Anlass, sich sozialen Gruppen, Gemeinschaften und Institutionen zuzuwenden, "die das Leben der Stadt in festen Bahnen leiten" (311).
Das als Epilog überschriebene Schlusskapitel "Ein Bild der Stadt - ein Bild vom Leben", dessen Erzählpräsens abermals nicht recht deutlich werden lässt, für welchen Zeitpunkt oder -raum hier Aussagen über die Kölner Stadtgeschichte gemacht werden, wartet zudem mit etlichen Pauschalisierungen auf. So habe die Gegnerschaft zum erzbischöflichen Stadtherrn "die städtische Einwohnerschaft zu einer Einheit" (339) werden lassen: Hier findet sich kein Wort über die Parteiungen der Kölner Geschlechter oder der Zünfte, die im gewählten Untersuchungszeitraum - zu denken wäre hier etwa an die Weberschlacht 1370/71 oder die berühmte Stürzung der Geschlechter durch die Zünfte 1396 - alles andere als einheitlich agiert haben. Gänzlich undifferenziert kommt dann die Einschätzung der Lebensqualität' des 'Kölners im Spätmittelalter' daher: "Die Kölner genießen - freilich sofern sie es sich leisten können - eine sehr hohe Lebensqualität." (340) Ähnliches gilt vor allem im Hinblick auf lediglich implizite Vergleichsmaßstäbe auch für sozialgeschichtliche Einschätzungen wie "In Köln ist man als Kranker ganz gut aufgehoben: Ärzte, Bader, Chirurgen, viele bieten gleichfalls ihre Dienste an." (341)
Fragestellung, Analysemethodik und Forschungsziel führen zu einem interdisziplinären Zuschnitt der Arbeit, die kunsthistorische, stadt- und topographiegeschichtliche Perspektiven mit Problemstellungen der Wirtschafts- und Mentalitätsgeschichte verknüpfen. Allerdings werden weder methodische noch fallstudienspezifische Erträge der originär 'zuständigen' Disziplinen für die Signifikanz von Stadtbild und -darstellung, wie auch eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Germanistik (Erich Kleinschmidt: "Textstädte - Stadtbeschreibung im frühneuzeitlichen Deutschland") oder die Stadtsemiologie (Kevin Lynch: "The image of the City", Roland Barthes: "Semiotik und Urbanismus" u.a.) herangezogen. Es wäre zudem wünschenswert gewesen, der Einführung etwas entnehmen zu können über a) die Auswahlkriterien der herangezogenen Stadtdarstellungen und b) die Präzisierung der Fragestellung im Hinblick darauf, wie die Spannung zwischen medienspezifischer Stadtrepräsentation und realer Topographie fruchtbar gemacht werden kann.
Sehr ansprechend ist die Ausstattung des Buches mit einem Tafelteil, der 79 teilweise sogar ganzseitige Abbildungen der ästhetisch immer wieder reizvollen Köln-Darstellungen bietet. Hier finden sich außer Woensams Stadtprospekt (1531) und Mercators vogelperspektivischem Stadtplan (1570/71) sämtliche 'Klassiker' der Köln-Darstellung des 15. und 16. Jahrhunderts wie z.B. die vielfach reproduzierten Köln-Ansichten aus Rovelincks Fasciculus temporum (1479-81), der Kölner Bilderbibel (1478/79), Schedels Weltchronik (1493) oder der Koelhoffschen Chronik (1499). Die Zusammenstellung der historischen Köln-Darstellungen wird durch andere, teilweise später entstandene Bildmedien wie Zeichnung, Lithographie und Photographie ergänzt.
Hervorzuheben ist auch die topographiegeschichtliche Detailfülle des Bandes, die immer im Blick behält, was von der mittelalterlichen Bausubstanz auch das heutige Köln noch prägt. Was die Arbeit auch für weiterführende Forschungen zu Stadtbild und Stadtdarstellung wertvoll macht, ist neben der bemerkenswert breit einbezogenen Forschungsliteratur die sehr umfangreiche, 63 Seiten umfassende Bibliographie, die die Literatur zu bildlichen und schriftlichen Quellen gesondert aufführt.
Dass Leiverkus eine Rekonstruktion der mittelalterlichen Stadt aufgrund von topographiegeschichtlichen Übereinstimmungen von Köln-Bildern und ihrer Realität im Stadtbild vorgelegt hat, ist eine in ihrem Detailreichtum verdienstvolle Vergegenwärtigung mittelalterlicher Stadtspuren, lässt aber doch vor allem methodische Reflexionen auf zwei Ebenen vermissen: zum einen haben ja vor allem Arbeiten aus dem Umfeld der Stadtsemiotik sowohl Theorien als auch Fallstudien über die Signifikanz der Stadt - ihre Zeichenhaftigkeit, Deutbarkeit und Aussagekraft als soziale wie als topographische Struktur hervorgebracht, deren methodische Reflexionen gewinnbringend hätten einbezogen werden können; zum anderen droht im Abgleichen von historischen Stadtdarstellungen, historischer Topographie und realer Stadt der Gegenwart der mediale Status und jeweilige Charakter der Köln-Bilder als Holzschnitt, Stadtprospekt oder vogelperspektivischer Stadtplan aus dem Blick zu geraten. Die so vorgeführte Lesbarkeit der Stadt ("Ein Stadtbild ist lesbar!", 311) wird zudem weder theoretisch noch terminologisch rückbezogen auf wenigstens die wichtigsten Schriftsteller und Wissenschaftler unterschiedlichster Disziplinen wie Victor Hugo, Walter Benjamin, Maurice Halbwachs oder Karlheinz Stierle, denen u.a. auch zu danken ist, dass die Lesbarkeit des Urbanen in unmetaphorischem Sinne als Stadtlektüre analysiert werden kann.
Yvonne Leiverkus: Köln. Bilder einer spätmittelalterlichen Stadt, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2005, 408 S., 79 Abb., ISBN 978-3-412-23805-6, EUR 39,90
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