Johann Gottfried Schadow (1764 - 1849) war ein leidenschaftlicher und virtuoser Zeichner. Seine "Zeichnungen sind wohl die größte Überraschung, die das Werk des Meisters bietet, weder in dieser Anzahl, noch in dieser Qualität vermutet man sie bei einem Bildhauer", schrieb 1909 der Altmeister der Schadow-Forschung Hans Mackowsky (91). An dieser Aussage hat sich nichts geändert, und die Erschließung des zeichnerischen Œuvres Schadows war stets ein Desiderat.
Sibylle Badstübner-Gröger, Claudia Czok und Jutta von Simson haben nun dieses Werkverzeichnis der Zeichnungen vorgelegt. In drei opulenten und großzügig bebilderten Bänden (einem Text- und zwei Katalogbänden, im Textband zudem hervorragende Farbtafeln) stellen die Autorinnen die erhaltenen Zeichnungen Schadows zusammen. Sie kommen dabei auf 2.014 Zeichnungen, wobei sie von "ursprünglich wohl mehr als 3.000 Blätter(n)" (91) ausgehen. Davon waren in der Forschung bislang nur etwa 300 Blätter (91) publiziert, meist in engem Kontext zu den bildhauerischen Arbeiten. Wenige Abhandlungen befassen sich explizit mit Schadows Zeichnungen, an älteren Arbeiten vor allem Mackowskys Veröffentlichung des so genannten Familienalbums [1] und Ragallers Studie über die Skizzen und Zeichnungen Schadows im Berliner Kupferstichkabinett. [2] Wohl als "Nebenprodukt" des besprochenen Werkes hat die Berliner Akademie der Künste in den letzten Jahren mehrere kleine Ausstellungen initiiert, die den Blick auf den Zeichner Schadow lenkten.
So ist das Werkverzeichnis in hohem Maße ein Vorstellen von weitgehend unbekanntem Material. Nach Mackowskys Katalogen der Grafik (1936) und der Bildwerke (1951) ist nun das gesamte Œuvre des Künstlers erschlossen. [3]
Nach einem einleitenden Essay Werner Hofmanns führen die Autorinnen im ersten Band mit kleineren Aufsätzen in den Problemkreis ein. Dabei werden die Hauptaufbewahrungsorte der Schadow-Zeichnungen (meist Berlin) genannt, deren Bestand charakterisiert und die Provenienzen erläutert (91-94). Anschließend gliedern sie das Zeichnungsœuvre in vierzehn "Sujets und Themen" (95-116). Mehr als 2.000 Zeichnungen in ein solches System einzuordnen ist problematisch, doch in der Summe überzeugend gelöst. Allerdings wäre es vielleicht sinnvoll gewesen, die Aktdarstellungen aus "Zeichnungen nach antiker Skulptur" (95-97) und "Der Akt und der Körper im Gewand" (97-99) zusammen zu fassen; Schadows Gestaltungsprinzipien wären dann deutlicher hervorgetreten. Doch strebt die gesamte Arbeit weniger die kunsthistorische Durchdringung der Zeichnungen eines Bildhauers an, denn das Vorstellen von Unbekanntem.
Weitere Themenkreise sind z.B. "Bewegungsstudien" (99-100), "Entwurfszeichnungen zu Bildhauerarbeiten" (100-101), "Grabmäler" (101-102), "Porträts" (104), "Karikaturen" (109-110). Dass ausgerechnet die Überschrift "Literarisches" (111) als "Liertarisches" falsch gesetzt wurde, ist bedauerlich, ebenso wie die falsche Nummerierung von Abbildungen (so 31: Abb. 1 statt 31).
Die Autorinnen wenden sich sodann Datierungsfragen zu (117-121). Von den mehr als 2.000 Zeichnungen sind nur etwa 300 von Schadow selbst datiert, für weitere 150 lässt sich die Entstehungszeit durch Auftragsvergaben etc. erschließen (117). Eine stilkritische Datierung der Blätter ist kaum möglich, da sich Schadows Zeichenkunst nur schwer in Entwicklungsstufen gliedern lässt (117). In diesem Zusammenhang scheinen sich die Autorinnen Helmut Börsch-Supans Meinung anzuschließen, der 1983 schrieb: Schadow "beherrscht viele Möglichkeiten des Ausdrucks und wählt sie nach Laune" (118). Dass diese "Möglichkeiten" aber Fragen aufwerfen, wird ausgeklammert. Ist es wirklich nur eine "Laune" des Künstlers, welche "Möglichkeit" er wählt? Oder verbirgt sich dahinter nicht das Problem der Funktion der jeweiligen Zeichnungen? Nur bei Zeichnungen, die plastische oder druckgraphische Werke vorbereiten, wird diese Frage marginal thematisiert. Bei Bildhauerzeichnungen ist grundsätzlich zu unterscheiden, ob sie als Vorstudien zu bildhauerischen Arbeiten gedacht sind oder nicht. Denn hier besteht die Spannung zwischen der Zweidimensionalität der Zeichnung einerseits und der Dreidimensionalität des Vorzubereitenden andererseits.
In einem weiteren Abschnitt des ersten Bandes werden "Werkgruppen" vorgestellt (122-140), womit das Familienalbum (eine posthum zusammengestellte Sammlung von Porträts aus dem Familien- und Freundeskreis, 122-123), Skizzenbücher oder die Zeichnungen, die bei Zusammenkünften des von Schadow mit gegründeten "Berlinischen Künstler-Vereins" entstanden sind, gemeint sind (124-125). Auch die "Vermessungen zum Polyclet" (134-140) oder die "National-Physiognomien" (141-144) werden derart zusammen gefasst. Abermals stellen sich dem Leser hier funktionale Fragen, weil Zusammenstellungen der Nachwelt, Zeichnungen Schadows für bestimmte Projekte sowie zufällige Gruppierungen (in Skizzenbüchern) zusammengeführt werden.
Den letzten Teil des ersten Bandes bilden ausführliche Register, über die die weiteren Bände erschlossen werden. Ein unvollständiges Themenverzeichnis steht am Anfang. Hier werden zum Beispiel die Parzen, die antiken Schicksalsgöttinnen, nur einmal erwähnt (148, Kat. 14). Katalognummer 14 zeigt aber Putten - keine Parzen (13-14). Im ausführlichen, alphabetischen Register am Ende des Bandes werden die Parzen (171), um beim Beispiel zu bleiben, mit vier Katalognummern 231, 233, 419, 769 aufgeführt. Jetzt wiederum fehlt der Verweis auf das Grabmal des jungen Grafen Blumenthal in Horst in der Prignitz, Kat. 415.
Die Bände zwei und drei listen die Zeichnungen chronologisch auf. In den monogramierten Artikeln zu den Blättern werden die üblichen technischen Angaben vorangestellt, wobei erfreulicher Weise auch die Wasserzeichen der Blätter, soweit ermittelbar, aufgeführt werden. Die Literaturangaben scheinen Vollständigkeit anzustreben und jede Zeichnung wird in ausreichender Größe abgebildet (hier ist das Lay-Out gelungener als im ersten Band, wo die vielen, guten Abbildungen den Text zum Teil von drei Seiten einengen und einen übervollen Eindruck erwecken).
Schließlich folgen beschreibend-interpretierende Erläuterungen, deren Längen stark variieren. Exemplarisch sei nochmals das Parzenmotiv, bzw. das Grabmal des Grafen von der Mark, betrachtet, bei dem die Parzen in einer Nische sitzen und den Lebensfaden des jungen Grafen durchtrennen.
Katalognummer 231 zeigt einen sehr frühen Entwurf. Dass dies Schadows einzige Zeichnung ist, bei der das Grabmal von Efeu oder Weinlaub überrankt wird, findet keine Erwähnung (88). Der Bildhauer verlegt das Grabmal nach außen, obgleich die Aufstellung innerhalb eines Kirchenraumes feststand. Zudem wird durch die Ranken der Eindruck von Vergänglichkeit - gleichsam romantisch - evoziert. In diesem Katalogeintrag findet sich im Text ein Platzhalter für einen Verweis auf den Anhang, der nicht ersetzt wurde. So bleibt der Verweis unauffindbar.
Katalognummer 232 zeigt zwei Studien zu sitzenden, weiblichen Gewandfiguren. Diese sind auf ein Blatt gezeichnet, das Ausgaben listet, die Schadow während seiner Italienreise getätigt hat. Fraglich ist, ob Zeichnungen und Notizen gleichzeitig zu datieren sind. Wären die Zeichnungen bereits in Italien entstanden, so argumentiert Badstübner-Gröger, könnten sie nicht in direktem Zusammenhang mit dem Auftrag des Grabmals von der Mark stehen (89). Könnte Schadow in Berlin bei der Gestaltung der Parzen aber nicht auf die ältere (?) Zeichnung aus Italien zurückgegriffen haben, was bei Art der Figurengestaltung wahrscheinlich wäre?
Jutta von Simson hat die Katalognummer 233 bearbeitet, die sich ebenfalls auf das Grabmal bezieht. Im Literaturverzeichnis wird Petra Maisaks Aufsatz zu diesem Blatt in eine "Festschrift für Christa Lichtenstein" verlegt, doch heißt die Saarbrücker Professorin Lichtenstern. Der Text zitiert die Beschreibung des Puhlmann'schen Entwurfs des Grabmals nach Mackowskys Paraphrase, obgleich die Primärquelle in Schadows "Kunstwerken und Kunstansichten" kaum mehr Raum einnähme (89).
Dem Rezensenten sei schließlich noch eine allgemeine Überlegung im Kontext mit der Herausgabe solch monumentaler Werkkataloge gestattet: Wäre es nicht sinnvoll, solchen Projekten eine CD-Rom beizufügen, die mindestens Registerfunktionen und Abbildungen enthalten sollte? Manche der zitierten Fehler könnten hier leicht korrigiert und so eine Tradierung vermieden werden. Zudem böte sich dem Benutzer die Möglichkeit, alle Zeichnungen am Bildschirm vergleichen zu können.
Den Autorinnen ist mit diesem Buch, trotz der angemerkten Mängel, ein großer Wurf gelungen. Ihr Anliegen war es wohl, durch die Vorstellung von mehr als 1.500 bislang unbekannten Zeichnungen Johann Gottfried Schadows, neue Impulse für die Forschung zu Schadow und Klassizismus zu geben. Mit diesem - im wahrsten Sinne des Wortes - opus magnum ist ihnen das auf beeindruckende Weise geglückt.
Anmerkungen:
[1] Mackowsky, Hans: Gottfried Schadows Familienalbum, in: Die graphischen Künste 32.1909, 1-28, und ders.: Katalog der Zeichnungen in Gottfried Schadows Familienalbum, in: Mitteilungen der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst 1, Wien 1909, 13-19.
[2] Ragaller, Heinrich: Skizzen und Zeichnungen von Johann Gottfried Schadow im Berliner Kupferstichkabinett, in: Jahrbuch der Berliner Museen NF 2.1960, 116-171.
[3] Mackowsky, Hans: Die Bildwerke Johann Gottfried Schadows, hrsg. v. Paul Ortwin Rave. Berlin 1951; ders.: Schadows Graphik. Berlin 1936 (= Forschungen zur deutschen Kunstgeschichte 19).
Sibylle Badstübner-Gröger / Claudia Czok / Jutta von Simson: Johann Gottfried Schadow. Die Zeichnungen, Berlin: Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft 2006, 3 Bde., 183 S. + 816 S., 2200 Abb., ISBN 978-3-87157-190-9, EUR 248,00
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