Der Name "Volto Santo" bezeichnet Darstellungen des lebenden Gekreuzigten im langen Ärmelgewand. Er leitet sich ab von einem berühmten mittelalterlichen Kultbild, dem Volto Santo in der Kathedrale in Lucca, das der Legende nach bereits im frühen Mittelalter aus dem Heiligen Land nach Italien gelangte.
Eine Reihe von Publikationen des 20. Jahrhunderts können heute zu Recht als Klassiker der Volto-Santo-Forschung betrachtet werden: Géza De Francovichs Studie von 1936 [1], die sich stilkritisch mit der Datierung und der regionalen Zuordnung des Volto Santo di Lucca auseinandersetzt; die Untersuchung Reiner Haussherrs zum Imervardkreuz in Braunschweig, einem frühen Beispiel dieses Typs nördlich der Alpen [2]; schließlich der Katalog der Ausstellung Il Volto Santo di Lucca. Storia e culto [3], der die relevanten Fragen der Ausstattung und des Kultes aufgreift und zahlreiche Nachfolgewerke vorstellt.
Viele der in diesen grundlegenden Publikationen aufgeworfenen Fragen wurden im Rahmen zweier Tagungen in Engelberg im Jahr 2000 und Lucca im Jahr 2001 [4] erneut besprochen. Der hier vorgestellte Band der Tagung in Engelberg bietet einen in erster Linie kulturhistorischen Blick auf altbekannte Probleme und zeichnet sich durch zwei Beiträge aus, die das Aufkommen und die Entwicklung des Volto-Santo-Kultes vom 11. bis ins 14. Jahrhundert in seiner gesellschaftlichen Dimension erfassen: Andreas Meyer, Der Volto Santo in der Luccheser Gesellschaft des 13. Jahrhunderts (229-336) und Raffaele Savigni, Lucca e il Volto Santo nell'XI e XII secolo (407-497).
Auch der Beitrag von Michele Bacci, Nicodemo e il Volto Santo (15-40), ist in erster Linie historisch ausgerichtet. Das besondere Interesse des Autors gilt dem Kulturaustausch im Mittelmeerraum. Bacci untersucht die Verbreitung des liturgischen Festes des "Bildes von Beirut" (9. November), eines legendären mittelalterlichen Christusbildes, das wie der Volto Santo als Werk des Nikodemus galt, in Rom und der westlichen Toskana, und er stellt die Frage nach dem Rombezug der Volto-Santo-Verehrung in Lucca. Ein weiterer Beitrag folgt einem vergleichbaren kulturhistorischen Interesse: Jean-Michel Sansterre stellt in allgemeiner Weise Wunderberichte des 10. und 11. Jahrhunderts vor, die in Zusammenhang mit einem Kruzifix stehen (Visions et miracles en relation avec le crucifix dans les récits des Xe-XIe siècles, 387-406).
Besondere Erwähnung verdienen die beiden numismatischen Beiträge von Michael Matzke und Franca Maria Vanni, Der Volto Santo auf Münzen (209-228) und L'iconografia del Volto Santo nella monetazione di Lucca (527-547). Ebenfalls hervorzuheben ist die Untersuchung Audrey Scanlan-Tellers zu den Schriftzeugnissen und der bildlichen Überlieferung des Gekreuzigten im Volto-Santo-Typ auf den britischen Inseln (The Volto Santo in the British Isles, 499-526), die einen regional begrenzten Bestand außerhalb Italiens als zusammenhängende Gruppe vorstellt.
Einem ikonographischen und kulturellen Sonderthema, der Frage von Urbild und Kopie im Verhältnis der Bildwerke des Volto Santo und der Heiligen Kümmernis zueinander, ist der Beitrag von Christoph Daxelmüller gewidmet, Der Volto Santo und die heilige Kümmernis. Aspekte einer Metamorphose (95-126).
Zwei Beiträge befassen sich mit dem Kruzifix aus Sondalo (Fulvio Cervini, Volti Santi in Liguria e Lombardia, 41-66, und Luca Mor, Il Cristo tunicato di Sondalo, 337-343). Beide Autoren beantworten die Frage nach der Identität der liegenden Figur am unteren Kreuzende völlig konträr (Adam, Jesse, Maria Magdalena, Unterwerfung der Luxuria?). Unsicherheiten dieser Art sind bei der Untersuchung mittelalterlicher Kruzifixe keine Seltenheit. So befindet sich am oberen Ende der croce dipinta aus S. Maria in Aracoeli in Rom (spätes 13. Jahrhundert, heute Museo Nazionale di Palazzo Venezia) eine Darstellung des thronenden, auferstandenen Christus, begleitet von Johannes und einer weiteren männlichen, bislang nicht eindeutig identifizierten Figur.
Eine Aktualisierung erfordert der Beitrag von Lawrence Nees, On the image of Christ crucified in early medieval art (345-385): Das von ihm erwähnte Kruzifix aus St. Peter in Rom (353), eine Kopie des 16. Jahrhunderts nach einem heute verlorenen Original, ist keineswegs aus Leder gefertigt, sondern aus Stuck. Seit der restauratorischen Untersuchung des Stückes in den 1980er-Jahren ist diese Annahme widerlegt. Zudem ist fraglich, ob es sich tatsächlich um die Replik eines Kruzifixes des 9. Jahrhunderts handelt, also des im Liber Pontificalis dokumentierten silbernen Kruzifixes, das Leo III. für die mittelalterliche Peterskirche stiftete, oder vielmehr um die Kopie eines Kruzifixes des 12. Jahrhunderts. [5]
Abschließend sei ein Thema erwähnt, das wie ein roter Faden den gesamten Band durchzieht: die Datierung des Volto Santo di Sansepolcro und seine Präsentation als "Volto Santo I" durch Anna Maria Maetzke. In den Jahren 1983-1989 wurde dieser restauriert und anhand einer C 14-Analyse in die Jahre 679-845 datiert (Datierung der Arme abweichend). [6] Die naturwissenschaftliche Datierung rückt das Stück in die Nähe des von De Francovich angenommenen Entstehungszeitpunkts des ersten Volto Santo di Lucca, des so genannten "Volto Santo I": Die Begriffe "Volto Santo I" und "Volto Santo II" sind eine Erfindung Géza De Francovichs. Er bediente sich in seinem Artikel von 1935 dieses Kunstgriffs, um eine Erklärung für die zeitliche Lücke zu finden, die sich zwischen dem Translationsdatum - der Legende nach erreichte das in Jerusalem nach dem wahren Abbild Christi gefertigte Kruzifix die toskanische Küste im 8. Jahrhundert - und der Datierung des bis heute überlieferten Kruzifixes ins frühe 13. Jahrhundert auftat. Im späten Mittelalter sei der erste Volto Santo durch das noch heute vorhandene Kruzifix ersetzt worden.
In einem Katalogbeitrag des Jahres 2002 stellte Anna Maria Maetzke eine Schriftquelle vor, die ihr zufolge den Verkauf des ersten Volto Santo nach Sansepolcro dokumentierte. [7] Mittlerweile wurde das fragliche Dokument als Fälschung erkannt (Andreas Meyer, Der Volto Santo in der Luccheser Gesellschaft, 295-297). Doch dieser von verschiedener Seite ausgesprochen harsch kritisierte Fehler sollte angesichts der Lebensleistung der vor der Publikation der Engelberger Akten verstorbenen Forscherin nicht überbewertet werden. Nie wurde übrigens die Frage nach der Person und den Motiven des oder der Fälscher gestellt. Bereits heute werden neue Interpretationsansätze diskutiert, denn es ist eine Tatsache, dass der Volto Santo nicht vor dem Jahr 1348 in Sansepolcro dokumentiert ist: so rekonstruiert Andreas Meyer (294-295) die Verbindung zwischen Sansepolcro und Lucca, zwischen Volto Santo I (?) und II auf der Basis spätmittelalterlicher Herrschaftsverhältnisse: Am 13. Juni 1314 eroberte Uguccione della Faggiuola Lucca, dessen Sohn Ranieri von 1335 bis 1355 über Sansepolcro herrschte. Das Jahr 1314 sieht Meyer als mögliches Verlustdatum für den Volto Santo di Lucca, und in der Herrschaft Ranieris über Sansepolcro erkennt er ein Zeitfenster für die Stiftung des Kruzifixes nach Sansepolcro. Auch diese Interpretation impliziert die meines Erachtens keineswegs gesicherte, bereits von Maetzke formulierte Annahme der Herkunft des Volto Santo di Sansepolcro aus Lucca. Das Kapitel der Frage nach der Herkunft des Volto Santo di Sansepolcro ist somit keineswegs geschlossen, es wird im Gegenteil gerade erst aufgeschlagen.
Zusammenfassend bietet der überaus materialreiche Band in der Sache wenig Neues. Der Gesamteindruck ist disparat, da einzelne Beiträge zu dem Thema der Tagung in keinem direkten Zusammenhang stehen. Positiv sind die Beiträge von Andreas Meyer und Raffaele Savigni hervorzuheben, mit zahlreichen wirtschafts- und rechtsgeschichtlichen Informationen zur Baugeschichte des Domes, zum Verhältnis von Domherren und Volto-Santo-Bruderschaft, zur jährlichen Lichterprozession, der "luminaria", oder zum Volto Santo als Symbol städtischer, guelfischer Identität. Sie schreiten auf dem mit der Ausstellung "Il Volto Santo. Storia e culto" von 1982 eingeschlagenen Weg der historischen Kontextualisierung fort.
Anmerkungen:
[1] Géza De Francovich: Il Volto Santo di Lucca, Bollettino Storico Lucchese 8, 1936, 3-28.
[2] Reiner Haussherr: Das Imervardkreuz und der Volto-Santo-Typ, Zeitschrift für Kunstwissenschaft 16, 1962,129-170.
[3] Clara Baracchini / Maria Teresa Filieri: Il Volto Santo di Lucca. Storia e culto, Ausst.kat. Lucca 1982.
[4] La Santa Croce di Lucca. Il Volto Santo, Storia, Tradizioni, Immagini, Atti del Convegno, Lucca, Villa Bottini, 1 - 3 Marzo 2001, hrsg. von Valter Del Grande, Empoli 2003.
[5] Katharina Christa Schüppel: Silberne und goldene Monumentalkruzifixe. Ein Beitrag zur mittelalterlichen Liturgie- und Kulturgeschichte, Weimar 2005, 21-46.
[6] Il Volto Santo di Sansepolcro. Un grande capolavoro medievale rivelato del restauro, a cura di Anna Maria Maetzke, Cinisello Balsamo 1994; vgl. auch den aktuellen Beitrag, Anna Maria Maetzke, Il Volto Santo di Sansepolcro, 196.
[7] Anna Maria Maetzke: Il "Volto Santo" di Sansepolcro. Documentata riscoperta del più antico Crocifisso monumentale dell'Occidente, in: La Bellezza del Sacro. Sculture medievali policrome, Ausst.kat., Koordination und Redaktion Marina Armandi und Giuliano Centrodi, Arezzo 2002, 1-13.
Michele C. Ferrari / Andreas Meyer (a cura di): Il Volto Santo in Europa. Culto e immagini del Crocifisso nel Medioevo. Atti del Convegno internazionale di Engelberg (13-16 settembre 2000), Lucca: Istituto Storico Lucchese 2005, 575 S.
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