Friedrich Ebert, so lernte der Rezensent vor Jahrzehnten von seinem Vater, der dem damals Sechsjährigen und gerade mit der Familie an den "Friedrich-Ebert-Platz" Umgezogenen auf die Frage nach dem Namensgeber für die neue Adresse antwortete, sei "der erste deutsche Reichspräsident" gewesen. Falls der Vater noch mehr ausführte, ist das der Erinnerung entschwunden. Immerhin war Ebert somit der erste Politiker, der "historisch verortet" werden konnte. Als kurz darauf John F. Kennedy ermordet wurde und die Eltern dies in tiefer Trauer aufnahmen, war auch klar, dass Staatspräsidenten etwas ungemein wichtiges sein mussten. Freilich hätte damals jedes Verständnis für das gefehlt, was der Rezensent nicht erst seit der Lektüre von Mühlhausens monumentaler Ebert-Darstellung weiß, aber erneut nachdrücklich bestätigt erhalten hat: dass man über solche Menschen äußerst dicke Bücher schreiben kann.
Man zögert mit dem Wort "Biografie", und der von Mühlhausen genutzte Kunstbegriff von der "biografischen Funktionsanalyse" macht die Sache auch nicht leichter: Wenn der Autor 900 von eintausend Textseiten den knapp sechseinhalb Jahren vom November 1918 bis zum Tod Eberts im Februar 1925 widmet, zeigen schon die Proportionen, dass es sich nicht um eine klassische Biografie handelt. Selbst für diese letzten sechs Jahre seines Lebens wird keine rechte "Biografie" daraus. Das ist Mühlhausen kaum anzulasten: Er hat wohl nahezu jede einschlägige Archivalie in der Hand gehabt und jede noch so entlegene Äußerung über Ebert gesichtet, wie tausende Anmerkungen und die gut vierzig Seiten Quellen- und Literaturverzeichnis ausweisen. Wenn Ebert als Person dennoch eher blass bleibt, dürfte es dafür zwei Gründe geben, die Mühlhausen in der Einleitung selbst anführt: Dem vom Heidelberger Sattlergesellen über die Ochsentour in der Partei aufgestiegenen SPD-Politiker fehlte ein größeres Maß an Charisma, und er war als Person keine Lichtgestalt, sodass sich auch die Zeitgenossen des Reichspräsidenten jenseits der politisch motivierten positiven oder negativen Zuschreibungen herzlich wenig über eben diese Person äußerten. Und wohl noch gravierender: Nur wenig von Eberts persönlichem Schriftgut hat ihn selbst überlebt und dieses wenige ist dann im Zweiten Weltkrieg wohl zum größten Teil bei einem Bombenangriff vernichtet worden. So verbleiben als Hauptgrundlage die Akten und Akten sind nun einmal oft eine eher trockene Angelegenheit. An vielen Stellen muss Mühlhausen in der Frage von persönlichen Reaktionen Eberts mit Vermutungen arbeiten oder mit der häufig variierten Formel antworten, dass darauf letztlich keine Antwort möglich sei.
Aus dem eher spröden Aktenmaterial macht Mühlhausen aber das Beste, denn das Buch ist flüssig geschrieben. Dass es Längen aufweist, wird man einer vom spürbaren Anspruch auf Vollständigkeit geprägten Darstellung nicht verübeln können. Wenn etwa wiederholt die häufigen Reichskanzlernominierungs- und Regierungsbildungsprobleme geradezu tages- und gelegentlich stundenweise geschildert werden, sollte man sich vielleicht eher merken, dass man dies bei Mühlhausen nachschlagen kann, wenn man es jemals so genau wissen muss. Auch wäre manchmal größere Anschaulichkeit nützlich. Wenn der Leser beispielsweise über vier Seiten ausführlichst über Eberts Besoldung als Reichspräsident informiert wird, weiß außer den wenigen Spezialisten keiner, was das Gehalt von 150.000 Reichsmark im Jahr 1921 tatsächlich (nämlich in Kaufkraft) besagt. Und auch die eine oder andere kleinere Wiederholung findet sich, was aber hauptsächlich der Gliederung geschuldet ist: Einen im Grundsatz chronologischen Aufbau durchbricht Mühlhausen mit diachronen Kapiteln, die etwa Eberts Verhältnis zur Reichswehr, die Frage nach der Volkswahl (1919 hatte ihn die Wahl der Nationalversammlung ins Amt gebracht, und die verfassungsgemäße Volkswahl wurde wiederholt und im Ergebnis über seinen Tod hinaus verschoben), seinen Umgang mit Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung oder seine Ausfüllung des Amtes im Hinblick auf Repräsentation und Integration beschreiben.
Mühlhausens Blick auf Eberts Tätigkeit ab dem Herbst 1918 ist zweifelsfrei von einer gewissen Sympathie geprägt und von der Tendenz, ihn gegen schon zeitgenössische und dann seit den späten Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts in der Wissenschaft wieder aufgegriffene Vorhaltungen in Schutz zu nehmen, er habe in der Revolution 1918/19 mit falschen Weichenstellungen und später mit zweifelhaften Anwendungen von Artikel 48 Keime zum Untergang der Republik gelegt. Aber die Sympathie verstellt ihm nicht den Blick auf gewisse Defizite Eberts, etwa seine gelegentlich mehr von Hoffnung als von Realitätssinn geprägte Haltung gegenüber der Reichswehr oder seine ebenfalls zu optimistische Sicht auf eine mögliche "Volksgemeinschaft" - verstanden nicht im nationalsozialistisch deformierten Sinn, sondern als Überwindung der vom Kaiserreich geerbten tiefen politisch-gesellschaftlichen Gegensätze zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum. Auch die wohl in der Person Eberts mitangelegten Versäumnisse, nicht alle Chancen des Staatsoberhauptes zur symbolischen Repräsentation der neuen Staatsform genutzt zu haben, verschweigt der Verfasser nicht, wobei hier wie in allen anderen Fällen ein gut begründetes "Zwar ... aber" zu lesen ist. Ebert vollführte hier wie in anderen Bereichen einen permanenten Drahtseilakt: Hätte er stärker "repräsentiert", wäre der vom rechten Rand tönende Hohn über den Parvenü noch lauter geworden; verhielt er sich aber - wie er es tatsächlich tat - in diesen Dingen eher karg, so konnte er die auch in einer Republik offenbar vorhandenen Bedürfnisse nach starker symbolischer Repräsentation nicht befriedigen.
Klarer als bisher zu lesen, arbeitet Mühlhausen den Kern von Eberts Amtsverständnis als Reichspräsident heraus: Er verstand sich als Teil der Exekutive, nicht als das in der Verfassung durchaus angelegte Gegengewicht gegen die Reichsregierung. Dass er mit diesem Verständnis und seinem Bemühen, die jeweilige Regierung zu stützen, wiederholt Probleme mit seiner eigenen Partei, der SPD, bekam, die nach den Ereignissen vom Herbst 1923 in Parteiausschlussforderungen gipfelten, ist dagegen bekannt.
Gemessen an der übrigen Breite der Darstellung behandelt Mühlhausen das außenpolitische Engagement Eberts fast lakonisch - und das, obwohl Ebert doch immer wieder für sich den Verfassungsartikel einforderte, das Reich außenpolitisch zu vertreten, und daraus weitreichende Kompetenzen ableitete (mit dem eigentlich nur in einer reinen Präsidialverfassung zulässigen Extremfall des "Immediatrechts" für den Moskauer Botschafter Brockdorff-Rantzau). Mit einer Ausnahme findet Außenpolitik bei Mühlhausen - neben ein paar pflichtschuldigen Erwähnungen zur Reparations- und zur Kriegsschuldfrage - fast nur unter innenpolitischen Gesichtspunkten statt. Die Ausnahme bezieht sich auf Eberts Antibolschewismus, die daraus resultierende Ablehnung der Annäherung an Sowjetrussland und insbesondere des Vertrages von Rapallo, dessen Abschluss hinter seinem Rücken er als Affront betrachtete. Aber selbst hier geht es Mühlhausen mehr um die innenpolitischen Folgen dieses Affronts, nämlich die Entfremdung zwischen Ebert und Wirth, die schließlich zum Sturz des Kanzlers beitrug.
Als Fazit lässt sich konstatieren, dass Mühlhausen geradezu ein Kompendium der Tätigkeit Eberts als Reichspräsident vorgelegt hat. Als solches wird man es nutzen können. Die Person, die wegen der Diffamierungen und des frühen Todes "in den Sielen" ein Hauch von Tragik umweht, bleibt über die zutreffende Feststellung hinaus, dass Ebert die besten und zumeist auch honorige Absichten hatte, weiterhin seltsam verstellt.
Walter Mühlhausen: Friedrich Ebert 1871-1925. Reichspräsident der Weimarer Republik, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2006, 1064 S., 76 Abb., ISBN 978-3-8012-4164-3, EUR 48,00
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