Einführungen in die Geschichtswissenschaft gibt es mittlerweile viele am Markt. Aber nur den allerwenigsten gelingt es, sich dauerhaft zu etablieren. Volker Sellins Einführung gehört ohne Zweifel zu diesen wenigen wirklich erfolgreichen Titeln. Schon ein kurzer, per Google unternommener Streifzug durch die Literaturlisten und -empfehlungen, die Proseminaristen an deutschen Universitäten heute an die Hand gegeben werden, zeigt: Sellins Band ist Standard; die Lehrenden geschichtswissenschaftlicher Einführungskurse verweisen häufig auf das Buch und verwenden es offenkundig gerne. Und das beweist auch der Verkaufserfolg: Die Einführung, 1995 erstmals erschienen, liegt nun in der dritten Auflage vor, erweitert um ein Kapitel zu Gegenwart und Zeitgeschichte, um Überlegungen zur Kulturgeschichte (im Abschnitt über Mentalität und Ideologie) sowie um aktuelle Literaturhinweise.
Was erklärt den Erfolg dieses Büchleins? Es deckt ganz offensichtlich in besonders überzeugender Weise den Bedarf von Studienanfängern an methodisch-theoretischer Einführung in die Geschichtswissenschaft. Und dafür gibt es vier Gründe: Erstens holt Sellin seine Leser genau an der richtigen Stelle ab. Er setzt "nichts voraus als die Bereitschaft, die vorgetragenen Gedankengänge mitzudenken" (13). Er beginnt mit Überlegungen zur historischen Tatsache (Kapitel 1), zum historischen Urteil (Kapitel 2) und zur Quellensuche (Kapitel 3 und 4), die sofort mitten in die Praxis historischen Denkens und Arbeitens hineinführen und zugleich voraussetzungslos verständlich sind. Zweitens beschränkt er sich klug auf das dem Anfänger Zumut- und Vermittelbare, dies aber konzentriert und ohne Phrasen zu dreschen oder sich in Allgemeinplätzen zu erschöpfen. Natürlich lassen sich über Typenbildung und Struktur (Kapitel 10), über die Frage der Objektivität in der Geschichtswissenschaft (Kapitel 14) oder über den Sinn der Historie (Kapitel 15) ausführlichste methodische Reflexionen anstellen - aber Sellin kennt die Grenzen und die Interessen seiner Zielgruppe und versteht es perfekt, nur das Wesentliche, das dem Einsteiger Verständliche zu entfalten. Drittens ist dieses Buch ein Musterbeispiel an Anschaulichkeit. Die zentralen geschichtswissenschaftlichen Probleme werden stets anhand bekannter literarischer Beispiele (etwa Shakespeares Othello), aus Alltagserfahrungen oder entlang allgemein bekannter historischer (in aller Regel neuzeitlicher) Vorgänge und Ereignisse entwickelt. Im Abschnitt zur Sprache des Historikers (Kapitel 9) wird ein und dasselbe Ereignis (Ausbruch des Pfälzischen Erbfolgekrieges) in drei verschiedenen Versionen erzählt, um dem Leser die Variationsmöglichkeiten, die Chancen, Grenzen und Probleme historischer Darstellung plastisch vor Augen zu führen. Viertens schließlich erklärt auch die Darstellungsform den Erfolg des Buches: Sellin präsentiert nicht fertiges Wissen, sondern er tritt in eine Art Dialog mit dem Leser. Er entfaltet einen Argumentationsgang, in dem er sich dem jeweiligen Problem suchend nähert, Fragen aufwirft, Thesen aufstellt, sie prüft, verwirft, verifiziert, weiterverfolgt - der Leser ist stets dabei und wird so fast en passant in wissenschaftliches Denken eingeführt.
Fazit: Studieninteressierte und Anfänger können - ja sollten - dieses geistreiche Buch in einem Zug lesen, um einen substanziellen und anschaulichen ersten Eindruck von Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft zu gewinnen. Für die in Sellins Band bewusst ausgesparte Technik geschichtswissenschaftlichen Arbeitens kann man dann ja ein anderes gutes Buch zur Hand nehmen.
Volker Sellin: Einführung in die Geschichtswissenschaft, Erweiterte Neuausgabe, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, 250 S., ISBN 978-3-525-01388-5, EUR 16,90
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