"Clement Greenberg war zweifellos der einflußreichste Kunstkritiker des 20. Jahrhunderts." [1] Mit diesem Satz leitet Karlheinz Lüdeking sein instruktives Vorwort zu der verdienstvollen deutschen Ausgabe ausgewählter Essays und Kritiken Greenbergs ein. Dabei begründet er die Ausnahmeposition des Kritikers nicht nur mit den eigenen Schriften, sondern nicht zuletzt auch mit der distanzierenden Reaktion einiger seiner "Schüler", wie Michael Fried oder Rosalind Krauss, die sich gegen ihren ehemaligen Mentor stellten, aber negativ auf ihn bezogen und so unter seinem Einfluss blieben. Die amerikanische, am renommierten MIT lehrende Kunsthistorikerin Caroline A. Jones, die mit einer wichtigen Studie über die Konstituierung des amerikanischen Nachkriegskünstlers am Beispiel von Andy Warhol, Frank Stella und Robert Smithson bekannt geworden ist [2], teilt die grundsätzliche Einschätzung Lüdekings. Sie hat Greenberg nun eine umfangreiche und komplexe Studie gewidmet, die sie nicht als Biografie im herkömmlichen Sinne missverstanden wissen möchte, sondern die sie selbst mit dem Etikett der "critical history" versieht.
Unter "critical history" mag man ein Amalgam aus den theoretischen Ansätzen von Foucault und Deleuze, mit Einsprengseln von Benjamin, Marx, Gramsci, Althusser, Freud, Lacan oder Butler verstehen, die von Jones in unterschiedlicher Weise und Ausdauer zitiert werden, um ihren Ansatz im "mainstream" amerikanischen akademischen Denkens als "poststrukturalistisch" zu situieren. Ausgehend von Greenbergs Wendung, sich selbst in und mit der Öffentlichkeit ausgebildet zu haben ("educating himself in public"), verfolgt Jones die komplexe Selbstwerdung des Kunstkritikers als einen aktiven, intellektuellen Prozess vor dem Hintergrund eines sozialen Feldes, das die Autorin mit dem Begriff der "modernistischen Visibilität" (XVI) fasst. Es ist das erste große Anliegen von Jones, zu erklären, wie es zu dem "Autor" Clement Greenberg mit seiner extremen Fokussierung auf den Augensinn kommt. Das zweite große Anliegen widmet sich der Tatsache der ausschließenden Privilegierung des Sehens, wobei Jones in terminologischer Anlehnung an Max Weber eine "Bürokratisierung der Sinne" als übergeordneten kulturgeschichtlichen Prozess der Moderne ausmacht. Greenbergs Modernismus und sein dazu gehöriger Formalismus erscheinen in dieser Perspektive als Resultanten einer gleichermaßen reduktionistischen wie intensivierenden paradigmatischen Kulturentwicklung unter den konstitutiven Bedingungen eines fortgeschrittenen Kapitalismus.
Das Buch ist komplex um die Leitbegriffe statements - visibilities - regimes aufgebaut und trotz einzelner Wiederholungen nicht einfach geschrieben, es stellt somit keine leichte Lektüre dar, aber eine, die sich in jedem Fall lohnt. Im ersten Teil werden eingangs u.a. Greenbergs biografischer Hintergrund (Herkunft, Militärzeit) und seine Anfänge als Kritiker am Beispiel der grundlegenden Aufsätze Avant-Garde and Kitsch von 1939 und Towards a Newer Laokoon von 1940 und auf der Grundlage der erst vor wenigen Jahren veröffentlichten Korrespondenz mit Harald Lazarus dargestellt. Schon hier steht die Frage nach der Zentrierung auf die visuelle Wahrnehmung auf Kosten des Körpers und seiner sonstigen sinnlichen Vermögen im Vordergrund, ja wird eine regelrechte Obsession Greenbergs hinsichtlich des Primats von Sichtbarkeit behauptet. Sie dient letztlich der Konstituierung eines "disziplinierten Selbst" als Zielpunkt des Modernismus. Verwoben wird das Argument mit Ausführungen zu Fragen wie dem Verhältnis von Mystizismus und Materialismus, dem jüdischen Familienhintergrund Greenbergs und seinen Jugenderfahrungen, seinem Verhältnis zur kunstpolitischen Positionierung Trotzkis und der Arbeit bei der Partisan Review.
Teilaspekte dieses Kapitels werden im zweiten, das sich vorrangig der Frage nach dem Formalismus widmet, den Jones lieber als "Historischen Formalismus" bezeichnen möchte (69), erneut gestellt. Die inneramerikanische Diskussion sowie die Formalismusdebatte in Russland werden skizziert, um vor dieser Folie Greenbergs Konzept zu profilieren. Dazu werden auch die Einflüsse - ein Wort, das Jones vermieden sehen will - auf den Kritiker erörtert, angefangen von Kant über Hegel bis zu Spengler, wie überhaupt die Rolle des deutschen philosophischen oder pseudophilosophischen Denkens für den sich selbst ausbildenden Kunstkritiker betont wird. Des Weiteren werden, vor allem anhand der seit zwei Jahrzehnten in edierter Form vorliegenden Hauptschriften Greenbergs bis zu den späten 1960er-Jahren [3], alle wichtigen Auseinandersetzungen und Fragestellungen des Kritikers detailliert erörtert. Dazu gehören, um hier nur einige zu nennen, die Rolle, die der Positivismus für sein formalistisches Denken spielte, seine Auseinandersetzung mit den Studien Ernst Gombrichs, die Beschäftigung mit dem Kubismus und dem Stieglitz-Kreis, vor allem die persönlichen Bekanntschaften mit Künstlern wie Hans Hofmann und natürlich Jackson Pollock (Kap. 5 und 6) bis hin - und dies scheint mir der vielleicht interessanteste, über das bislang existierende Greenbergbild hinausweisende Teil des Buches zu sein - zu Fragen der postmodernen bis gegenwärtigen Rezeption des Kritikers und seines Kontextes. Die Perspektive weitet sich hier ins Panoramische und wendet sich nach der erhellenden Rekonstruktion der Wiederbelebung Greenbergs durch seine Kritiker wie Rosalind Krauss zum Zeitpunkt der Erosion seiner führenden Position zu. Des Weiteren steckt sie unter Erläuterung der Tatsache, dass die Geste der Abstraktion selbst zum Zeichen im Rahmen einer postmodernistischen Aneignung regrediert, die allgemeinen Rahmenbedingungen von Greenbergs Agenda ab. Jones' Konzeption und Fragestellung verdankt hier den bekannten Studien Jonathan Crarys zum 19. Jahrhundert viel und hätte von der - fast notorisch ausbleibenden - Rezeption der neueren deutschen Geschichtswissenschaft und Kulturwissenschaft, etwa den Studien Philipp Sarasins, im Sinne einer genaueren Fundierung weiter profitiert.
So wichtig und verdienstvoll das Buch von Carolin A. Jones auch ist, dem man viele neue Erkenntnisse und Perspektiven verdankt, man legt es schließlich mit einem etwas unbehaglichen Gefühl aus der Hand, das wesentlich in der theoretischen Kanonbildung und -repetition sowie dem so verursachten leichten Beigeschmack intellektueller Sterilität gründet. Die kritische Sicht auf Greenberg, der in den Theorierahmen wie in ein Prokrustesbett eingespannt und schließlich etwas forciert zum "modernistische(n) Subjekt par excellence" stilisiert wird, sollte allmählich auf sich selbst angewendet oder schlicht erweitert werden, um damit die inzwischen zum Klischee geronnene "dekonstruktivistisch-poststrukturalistische" Stilisierung politischer wie theoretischer "correctness" in den Blick zu nehmen. Hinzu kommt, dass Jones trotz ihres kritisches Ansatzes dazu beiträgt, die bedeutende Rolle Greenbergs erneut zu verabsolutieren, obwohl er nur eine von mehreren Kritikerpositionen angesichts des "Triumphes der New York School" (Irving Sandler) markiert und die Malerei eines weit gefassten Abstrakten Expressionismus angesichts von Happening, Fluxus und englischer Pop Art keineswegs eine unangefochtene künstlerische Position der 1950er-Jahre und schon gar nicht der 1960er-Jahre darstellt. Das limitiert die Verallgemeinerungsfähigkeit der Figur Greenbergs meines Erachtens entscheidend, womit die Plausibilität seines Ansatzes durchaus kritisch zu erörtern wäre. Auch scheint Zweifel an der generellen Prämisse eines okular bestimmten 20. Jahrhunderts angebracht zu sein, das sich in der Dominanz einer formalistischen Kunst manifestiere und uns erst heute, nach seiner Relativierung, einen kritischen Blick auf Greenberg erlaube. Damit erscheinen die Dinge doch zu vereinfacht und folgen einer verengenden Sichtweise. Auch das 20. Jahrhundert und seine Kunst waren eben komplexer als die Phalanx nachmodernistischer amerikanischer Kunstkritiker der modernen Kunst mitunter gerne wahrhaben möchte. Die Frage nach der Übertragbarkeit einer detaillierten Fallstudie und Theorieposition auf die Entwicklung und den Zustand einer gesamten Gesellschaft bleibt dabei weiter methodisch problematisch, auch wenn das Vorgehen in diesem Falle umgekehrt erfolgt, also deduktiv ist. Zur Durchführung der Analyse bedarf es eines theoretischen Konstrukts, jenes Zerrbildes namens "Modernism", das in der mikroskopischen Sicht von Jones immer wieder aufgefunden wird.
Anmerkungen:
[1] Clement Greenberg: Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, hrsg. von Karlheinz Lüdeking, Amsterdam und Dresden 1997, 9.
[2] Vgl. Caroline A. Jones: Machine in the Studio. Constructing the Postwar American Artist, Chicago 1996.
[3] Vgl. Clement Greenberg: The Collected Essays and Criticism, ed. by John O'Brian, 4 Vols, Chicago and London 1986-1993. Diese Sammlung umfasst die Jahre 1939-1969.
Caroline A. Jones: Eyesight Alone. Clement Greenberg's Modernism and the Bureaucratization of the Senses, Chicago: University of Chicago Press 2006, xxix + 553 S., ISBN 978-0-226-40951-1, GBP 28,50
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