Pünktlich mit Beginn des 3. Jahrtausends hat in der Mediävistik eine geradezu atemberaubende Konjunktur des Ostfrankenreichs eingesetzt. In nur fünf Jahren erschienen zwei Biographien zu Ludwig dem Deutschen, eine Biographie zu Karl III. sowie mehrere Sammelbände zur Geschichte des Ostfrankenreichs, u.a. zu der Herrschaft Arnolfs von Kärnten, Ludwigs des Kindes und Konrads I.[1] Damit ist nunmehr die Reihe der ostfränkischen Gesamtherrscher bis zum Beginn der ottonischen Zeit umfassend aufgearbeitet und so manche empfindliche Forschungslücke geschlossen.
Eine willkommene Ergänzung hat dieser Themenbereich bereits früh in der vorliegenden Dissertation von Boris Bigott über die Entwicklung der ostfränkischen Reichskirche unter Ludwig dem Deutschen erhalten. Ausgehend von der großen Bedeutung des hohen Klerus für die frühmittelalterliche Königsherrschaft will Bigott die konkrete Einbindung der Kirche in den Reichsdienst unter Ludwig dem Deutschen untersuchen. Dabei sei die Reichskirche nicht einfach als "abstrakte Institution" (13) vorauszusetzen, sondern auch das konkrete Beziehungsgeflecht zwischen König und geistlichen Amtsträgern müsse stets im Auge behalten werden. Denn die Amtsträger waren zugleich fest in die adlige Gesellschaft eingebunden und deren Interessen spielten somit in das komplexe Gefüge zwischen König und Kirche mit hinein.
Die Untersuchung beginnt mit einer Bestandsaufnahme der Reichskirche im eher prosopographisch angelegten ersten der vier Hauptkapitel (22-52). Hier wird, wie in der gesamten Arbeit, sorgfältig auf etwaige Unterschiede in der Behandlung von Bischöfen und Äbten geachtet. Dabei werden sowohl die erzählenden wie besonders die urkundlichen Quellen intensiv ausgewertet.
Auf dieser Grundlage zeichnet das 2. Kapitel (53-123) die Etablierung der Reichskirche von Ludwigs des Deutschen Herrschaftsantritt in Bayern bis zum Jahre 847 nach. Bigott versucht hier darzulegen, wie es Ludwig nach dem Tode seines Vaters 840 allmählich gelang, die überwiegend noch von diesem eingesetzten kirchlichen Amtsträger, in Konkurrenz besonders zu seinem Bruder Lothar, auf seine Seite zu ziehen oder ihre Stellen mit loyalen Anhängern zu besetzen. Als Endpunkt dieser Gründungsphase einer ostfränkischen Reichskirche betrachtet Bigott die Synode von Mainz 847. Diese wurde noch im Todesjahr von Ludwigs erbittertem Gegner, Erzbischof Otgar von Mainz, durch dessen Nachfolger Hrabanus Maurus einberufen und gilt Bigott als "große[r] Versöhnungsakt" (104) zwischen König und Klerus.
Das 3. Kapitel (124-193) befasst sich intensiv mit allen Erscheinungen der Inanspruchnahme des ostfränkischen Klerus für den Königsdienst. Im Einzelnen werden dabei nicht nur die Bereiche von Krieg, Diplomatie, Gastung, Dienst in der Hofkapelle sowie Mitwirkung an Versammlungen und bei der Rechtsprechung, sondern auch missionarische Tätigkeiten berücksichtigt.
Im 4. Kapitel (194-276) wird die weitere Entwicklung nach 847 dargestellt und ausgewertet. Hierbei stehen besonders die königlichen Eingriffe in kirchliche Belange (Ein- und Absetzungen, Bistumsorganisation, Veränderungen im Umfang der Reichskirche) im Mittelpunkt der Betrachtung. Die abschließende Zusammenfassung (277-287) bietet zusätzlich informative Vergleiche mit den fränkischen Bruderreichen des 9. Jahrhunderts. In einem Ausblick auf die ottonisch-salische Zeit weist Bigott auf zahlreiche Verbindungslinien hin.
Bigotts Arbeit zeichnet sich durch eine intensive Argumentation in engem Kontakt mit den Quellen aus. Dieser Eindruck wird nicht von der gelegentlich etwas eigenwilligen Auswahl quellenkundlicher Literatur getrübt, so etwa wenn auf Einleitungen zu deutschen Übersetzungen verwiesen wird (z.B. 205, Anm. 52), nicht aber auf das entschieden aktuellere 6. Heft des Wattenbach/Levison/Löwe.
Zahlreiche kleinere und größere Forschungskontroversen werden umsichtig aufbereitet und erfahren oft eine neue Beleuchtung im Kontext der Arbeit. Angesichts der hier gezeigten profunden Literaturkenntnis überrascht es etwas, dass bei der Untersuchung der Jahre bis 840 nicht auf die Prosopographie von Depreux [2] zurückgegriffen wurde. Aber dieses Detail tut dem Wert der entsprechenden Ausführungen Bigotts keinen Abbruch.
Methodisch leidet das 2. Kapitel etwas unter der zu pauschalen Einteilung der ostfränkischen Äbte und Bischöfe bis 847. So kennt die Legende der beiden Karten (79, 94) lediglich "Anhänger", "Gegner" und "vermutliche Gegner" Ludwigs. Das gerade in Zeiten des Bruderkriegs alltägliche Lavieren dieses Personenkreises, der es sich möglichst mit keinem der Söhne Ludwigs des Frommen endgültig verderben wollte, bleibt unberücksichtigt. Tatsächlich dürfte sich das Problem kirchlicher Ablehnung Ludwigs, besonders nach dem Vertrag von Verdun 843, weit weniger dramatisch dargestellt haben als es die Ausführungen Bigotts nahe legen. Dieser Befund ist ferner bedeutsam, da nach Bigott seinerzeit die "bischöflichen Hintersassen [...] den wohl entscheidenden militärischen Rückhalt" (283) jedes Königs darstellten. In diesem Modell ist es aber kaum erklärlich, wie Ludwig im Bruderkrieg nach 840, allein auf bayrische Ressourcen gestützt, so rasch nahezu den gesamten ostrheinischen Teil des Frankenreichs seiner Herrschaft unterwerfen konnte.
In diesem Kontext muss schließlich auch auf die Deutung der Mainzer Synode von 847 eingegangen werden. Deren Interpretation als "erstmalige öffentliche Anerkennung der Königsherrschaft Ludwigs" (105) durch den ostfränkischen Klerus ist deutlich überzogen. Bereits Wilfried Hartmann hat auf frühere Parallelen zu einigen der von Bigott als neuartig betrachteten Passagen in den Synodalakten hingewiesen. [3] Ohnehin ist es nicht vorstellbar, dass nach dem Vertrag von Verdun einzelne Bischöfe offen ihrem König den Gehorsam verweigert hätten. Hier leidet die Darstellung unter einem zu einseitigen Verständnis von regnum als "durch die Glieder der Reichskirche bestimmt[e]" (281) Sphäre der Königsherrschaft.
Auch wenn die Gewichtung der Kirche für die Herrschaft Ludwigs des Deutschen in einzelnen Aspekten etwas zu stark geraten ist, so ist Bigott in seinen Kernpunkten zur Bedeutung Ludwigs für die Reichskirche unbedingt Recht zu geben. Überzeugend arbeitet er heraus, wie Ludwig stets sorgfältig darauf bedacht war, seinen königlichen Handlungsspielraum zu erhalten und z.B. dem Laienabbatiat deutlich weniger Raum gab als Karl der Kahle. Einleuchtend entwickelt sich vor den Augen des Lesers das Bild eines Bewahrers. Weniger systematisch als sein Vater, und nur in geringem Maße an der Erweiterung der Kirchenorganisation interessiert, gelang es Ludwig dennoch, energisch die Kirche in seine Herrschaft einzubinden.
Bigotts gut zu lesende und umsichtig gearbeitete Untersuchung stellt zweifellos ungeachtet verschiedener Einwände eine wertvolle Bereicherung der Literatur zum Ostfrankenreich dar. Zur Ausbildung und eigenständigen Fortentwicklung eines ostfränkischen Staats unter dessen erstem König, aber auch für künftige vergleichende Untersuchungen hat er wichtige Grundlagen bereit gestellt.
Anmerkungen:
[1] Wilfried Hartmann: Ludwig der Deutsche, Darmstadt 2002; Eric J. Goldberg: Struggle for Empire. Kingship and Conflict under Louis the German, 817-876, Ithaca 2006; Wilfried Hartmann (Hg.): Ludwig der Deutsche und seine Zeit, Darmstadt 2004; Roman Deutinger: Königsherrschaft im Ostfränkischen Reich. Eine pragmatische Verfassungsgeschichte der späten Karolingerzeit, Ostfildern 2006; Simon MacLean: Kingship and Politics in the Late Ninth Century: Charles the Fat and the End of the Carolingian Empire, Cambridge 2003; Franz Fuchs / Peter Schmid (Hg.): Kaiser Arnolf. Das ostfränkische Reich am Ende des 9. Jahrhunderts, München 2002; Klaus Herbers / Bernhard Vogel (Hg.): Ludwig das Kind (900-911), Forchheim 2002; Hans-Werner Goetz (Hg.) unter Mitarbeit von Simon Elling: Konrad I. Auf dem Weg zum "Deutschen Reich"?, Bochum 2006.
[2] Philippe Depreux: Prosopographie de l'entourage de Louis le Pieux (781-840), Sigmaringen 1997.
[3] Hartmann: Ludwig der Deutsche, 194.
Boris Bigott: Ludwig der Deutsche und die Reichskirche im Ostfränkischen Reich (826-876) (= Historische Studien; Bd. 470), Husum: Matthiesen 2002, 350 S., ISBN 978-3-7868-1470-2, EUR 51,00
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