Weder die Geschichte supranationaler Institutionen noch deren Rolle im Dekolonisationsprozess ist bislang detailliert untersucht worden. Einen Teil dieser Lücke füllt nun Daniel Maul mit seiner Studie über die Internationale Arbeitsorganisation (IAO), die den Zeitraum von 1940 bis 1970 als "Kernphase des globalen Dekolonisationsprozesses" (30) abdeckt. Die Arbeit, die sich als Beitrag zur Ideengeschichte der Dekolonisation und zu den postcolonial studies versteht (19), ist chronologisch aufgebaut und in drei Teile gegliedert. Die Arbeit beginnt mit einem Prolog über die Geschichte der IAO bis 1939. Teil I behandelt die Jahre 1940 bis 1947 als Phase der Neuorientierung, in der die IAO den Kolonialgebieten größere Aufmerksamkeit zu widmen begann. In zweiten Teil wird die Zeit des "Aufbruchs" zwischen 1948 und 1960 untersucht, als die IAO ein umfassendes Modernisierungsmodell entwickelte. Das letzte Jahrzehnt des Untersuchungszeitraums beschäftigt sich mit den neuen Herausforderungen, mit denen sich die Institution im Zuge der fortschreitenden Dekolonisation konfrontiert sah. Die zugrunde liegenden Archivquellen setzen sich aus den Unterlagen der IAO, des britischen Colonial Office, des US-Arbeitsministeriums, der Vereinten Nationen sowie mehreren Nachlässen zusammen.
Die IAO war bereits 1919 als Teil der Versailler Verträge gegründet worden, um mit Hilfe von Internationalen Arbeitsstandards den Schutz der Arbeitnehmer zu gewährleisten. Mit dem Zweiten Weltkrieg und der einsetzenden Dekolonisation gewann die Organisation ganz neue Bedeutung. Maul erkennt in ihr einen herausragenden "Akteur und Seismograph im Dekolonisationsprozess" (16). Er verfolgt zwei diskursive Stränge, die nach 1945 in der IAO verhandelt wurden: die Menschenrechtsfrage und das Entwicklungskonzept, mit deren Hilfe er "die Werte-Fundamente der sozialen Architektur der globalen Nachkriegsordnung" freilegen will (14). Dahinter steht die Annahme, dass Institutionen wie die IAO aktiv zur Formulierung politischer Entscheidungen beitragen und international gültige Maßstäbe "guter Politik" definieren können. Wie das Wissen entsteht, das dazu benötigt wird, will Maul untersuchen, indem er die Dialoge analysiert, die innerhalb der beteiligten "Wissensgemeinschaften" - verstanden als "'networks of knowledge-based experts'" - geführt wurden (22). Für die IAO als "Diskursfeld" nimmt er an, dass deren Tätigkeit zur "Verfeinerung und Weiterentwicklung" der Modernisierungstheorie - als Grundlage der westlichen Politik gegenüber der so genannten Dritten Welt - beitrug, sich hier also wissenschaftliche Theorie und institutionelle Praxis verbanden (23-24).
Maul kommt zu dem Schluss, dass es der IAO gelungen sei, auf den Gebieten der Menschenrechte und der Entwicklung "einen wichtigen praktischen und intellektuellen Beitrag in der Staatenordnung der Nachkriegszeit" (404) zu leisten. Dabei befand sie sich von Beginn an in einem schwierigen Spannungsfeld zwischen den Zielen der beiden Supermächte USA und UdSSR, den Erwartungen der Kolonialmächte und den Eigeninteressen der Neuen Nationen. Letztere versuchten sich als gleichberechtigte, souveräne Staaten und anerkannte Handelspartner auf vorteilhafte Weise zwischen Ost und West zu positionieren. Währenddessen sahen die Kolonialmächte ihren Einfluss auf die ehemaligen Kolonien schwinden und fürchteten um die Vorteile, die sie bis dahin auf wirtschaftlicher und strategischer Ebene genossen hatten. Für die USA stellte die Dekolonisation eine doppelte Herausforderung dar: Einerseits mussten sie die Interessen der Kolonialmächte respektieren, die nun ihre Verbündeten gegen die Sowjetunion waren. Andererseits wollten sie verhindern, dass die neuen Nationen zur UdSSR überliefen, die sich mit ihrer Befreiungsrhetorik unmissverständlich auf die Seite der Kolonien stellte. Zudem machte ihnen die Sowjetunion ein Modernisierungsangebot, das vielen Unabhängigkeitsführern attraktiver erschien als das abstrakte Plädoyer des Westens für "Demokratie" und "Freiheit".
Die IAO war ein Forum für alle Parteien, verstand sich aber eindeutig als Repräsentantin des demokratisch-freiheitlichen Lagers. In dieser Situation musste sie eine gemeinsame Linie - und das hieß vor allem Kompromisse - aushandeln und Normen entwickeln, die sich über alle Interessensunterschiede hinweg durchsetzen ließen. Maul kann zeigen, dass es der Institution nicht zuletzt aufgrund ihres fähigen Leiters, David A. Morse, immer wieder gelang, Konflikte zu überwinden und die IAO zu einer Institution zu machen, die grundlegenden Einfluss auf die Menschenrechts- und Entwicklungspolitik nahm. Zentrale Themen waren unter anderem die Gewerkschaftstätigkeit und die Zwangsarbeit. Dominierte anfangs die Formulierung und Verabschiedung von Arbeitsstandards das tägliche Geschäft, intensivierte die IAO seit Ende der vierziger Jahre ihre technische Hilfe, um die sozialen Bedingungen in der Dritten Welt zu verbessern. Dabei folgte sie der Überzeugung, dass es nicht ausreiche, das wirtschaftliche Wachstum zu fördern, sondern dass es paralleler gesellschaftspolitischer Maßnahmen bedürfe, um demokratische Strukturen zu etablieren. Dieser "integrierte Entwicklungsansatz" stellte Maul zufolge einen Vorläufer der Modernisierungstheorie dar und ergänzte deren auf Industrialisierung fixierte Perspektive um die soziale Komponente. Mit der Dekolonisation Afrikas zu Beginn der sechziger Jahre und dem steigenden Selbstbewusstsein der neuen Staaten wuchs der Bedarf an innovativen Konzepten, um trotz aller Umbrüche demokratische Grundrechte wie die Vereinigungsfreiheit durchzusetzen. Dies gestaltete sich häufig schwierig - nicht zuletzt deshalb, weil einige der betroffenen Nationen bewusst die Bemühungen der IAO unterliefen: Sie warfen der Institution Eurozentrismus vor und kritisierten, dass Maßnahmen wie Zwangs- und Pflichtarbeitsysteme, für deren Abschaffung sich die IAO schon zu Kolonialzeiten eingesetzt hatte, im Interesse der Modernisierung unabdingbar seien. Immerhin stellte der vor allem von den afrikanischen Staaten betriebene Austritt Südafrikas aus der Organisation einen unübersehbaren Erfolg im Bemühen um die Anerkennung der Menschenrechte in den ehemaligen Kolonien dar. Zwar konnte die IAO nicht verhindern, dass die Menschenrechtsproblematik im Kontext des Ost-West-Konflikts instrumentalisiert wurde, doch Maul macht deutlich, wie es der Einrichtung gelang, die Universalität solcher Rechte zu verteidigen und die frühere Unterscheidung zwischen "kolonialer" und "normaler" Arbeit zu überwinden.
Übersichtlich und anschaulich verbindet Daniel Mauls Darstellung drei Jahrzehnte komplexer Institutionengeschichte mit der Rekonstruktion und Analyse zentraler Fragen der Dekolonisation. Die Untersuchung legt eine Grundlage für weitere Arbeiten, die sich mit internationalen Organisationen befassen, und sie zeigt, dass institutionen- und diskursanalytische Ansätze gewinnbringend vereinbar sind. Etwas kurz kommen die anfangs angesprochenen Wissensgemeinschaften, die zwar im Hintergrund zu erahnen sind, aber nicht systematisch analysiert werden. Außerdem bleibt unklar, inwiefern die IAO für die mit den Fragen der Dekolonisation befassten Institutionen - unter anderem mit Blick auf die UNO - repräsentativ war oder eine Sonderrolle einnahm. In diesem Zusammenhang würde man auch gern mehr darüber erfahren, aus welchen Kreisen sich die Mitarbeiter der IAO rekrutierten, wie die Institution bzw. ihre Gremien konkret arbeiteten und wie sich ihre Funktionsweise im Laufe der Jahre wandelte. Diese Einschränkungen mindern jedoch keineswegs den Gewinn, den die Arbeit für die Forschung über die Geschichte der Dekolonisation, der Menschenrechte und der supranationalen Institutionen bringt.
Daniel Maul: Menschenrechte, Sozialpolitik und Dekolonisation. Die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) 1940 -1970 (= Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen. Schriftenreihe A: Darstellungen; Bd. 35), Essen: Klartext 2007, 447 S., ISBN 978-3-89861-679-9, EUR 39,90
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