Es ist noch nicht lange her, da machten Schlagzeilen die Runde, dass über 40 Bundestagsabgeordnete der 6. Legislaturperiode (1969-1972) als Inoffizielle Mitarbeiter (IM) des DDR-Staatssicherheitsdienstes registriert gewesen seien. Die Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen Marianne Birthler beeilte sich zu versichern, dass nur einige wenige davon wissentlich mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) zusammengearbeitet hätten. Doch eine gründliche Untersuchung zu den Stasi-Einwirkungen auf den Bundestag wollte sie ebenso wenig durchführen wie die Fraktionsspitzen der Regierungskoalition.
Umso neugieriger darf man sein, wenn ein wissenschaftlicher Mitarbeiter der Behörde jetzt nach achtjähriger Arbeit eine Untersuchung über Bundesbürger im Dienst der DDR-Spionage vorlegt. Im einleitenden Teil der knapp 500 Seiten starken Studie, die zugleich die Doktorarbeit des Autors ist, gibt er zunächst einen Überblick über die Quellen- und Forschungssituation. Er behandelt die Strafverfahren gegen DDR-Spione, erläutert die 1998 entschlüsselte Registratur der Agentenberichte ("SIRA"), skizziert die Personenkartei der Stasi-Spionageabteilung ("Rosenholz-Unterlagen") und referiert die vorliegende Literatur zum Thema. Sodann zeichnet er ein so genanntes Kollektivporträt der DDR-Spione, das von ihrer sozialen Herkunft über die Altersstruktur bis zur Parteimitgliedschaft reicht. Im dritten Abschnitt behandelt er die Methoden der Agentenrekrutierung, um schließlich über Ziele, Erfolge und Schwächen der DDR-Spionage zu reflektieren.
Wenn man dennoch das Buch am Ende enttäuscht beiseite legt, dann deshalb, weil es die großen Fragen zur Westarbeit der Stasi unbeantwortet lässt: Wo saßen die Agenten des DDR-Staatssicherheitsdienstes in der Bundesrepublik? Wer gehörte zum vieltausendköpfigen Heer der West-IM? Welchen Einfluss übten sie auf die Entwicklung der Bundesrepublik aus? Welchen Beitrag leisteten sie zur Stabilisierung des SED-Regimes? Mit fortschreitender Lektüre verfestigt sich der Eindruck, dass der Autor aus einem Übermaß an politischer Vorsicht sein Thema umkreist, ohne auf den Kern vorzustoßen.
Dazu trägt bereits die methodische Anlage des Buches bei: Es untersucht nicht "die" DDR-Spionage, zu deren Unterlagen der Autor als Mitarbeiter der Stasi-Unterlagen-Behörde einen exklusiven Zugang hat, sondern lediglich 482 Fälle, in denen DDR-Agenten angeklagt wurden. Ihnen werden - dem Anschein nach recht willkürlich - weitere 17 Spione hinzuaddiert, bei denen es nicht zur Anklage kam. Unberücksichtigt bleiben nicht nur jene anderen rund 2500 Spione, deren Ermittlungsverfahren von den Staatsanwaltschaften wieder eingestellt wurden, sondern auch mindestens 9000 weitere Stasi-Agenten, gegen die gar nicht erst ermittelt wurde. Auf seinem, wie der Autor selber einräumt, keineswegs repräsentativen Ausschnitt baut er den größten Teil seiner Untersuchung auf.
Statt das Sample mit zum Teil hochinteressanten Spionagefällen qualitativ zu analysieren, nutzt es der Autor für eine wenig weiterführende quantitative Untersuchung. Man kann dort zum Beispiel erfahren, dass 16 Prozent der DDR-Spione zum Zeitpunkt ihrer Anwerbung Studenten und etwa ebenso viele Handwerker oder Arbeiter gewesen seien. Man kann darüber hinaus lesen, dass 21 Prozent der Agenten zwischen 20 und 24 und 19 Prozent zwischen 25 und 29 Jahre alt gewesen seien. Der Erkenntnisgewinn dieser vom Autor bereits 2003 zum Teil veröffentlichten Angaben [1] ist kaum größer, als wenn man die Zahl der Blau- und der Braunäugigen unter den DDR-Spionen untersuchen würde.
Problematisch ist auch die zugrunde gelegte Definition des so genannten West-IM. Der Autor vertritt die Auffassung, dass darunter nur solche Agenten zu verstehen seien, die Bürger der Bundesrepublik und "westlich sozialisiert" waren. Damit bleibt nicht nur das Heer der regelmäßig in den Westen reisenden Kuriere und Instrukteure außer Betracht. Auch Tausende Agenten, die - mit echter oder falscher Identität - aus der DDR in die Bundesrepublik übersiedelten, fallen heraus. Nach dieser Definition, die das Ausmaß der DDR-Spionage erheblich verkleinert, kann selbst der bekannteste Stasi-Agent, Kanzleramtsreferent Günter Guillaume, nicht dazu gezählt werden. Schließlich kam er 1956 im Stasi-Auftrag aus der DDR in die Bundesrepublik.
Zum Glück weicht der Autor wiederholt von seinem selbst gewählten Schema ab. Interessant sind zum Beispiel seine Exkurse zur SIRA-Registratur, wo selbstverständlich auch Guillaume und alle anderen aus dem Westen berichtenden Stasi-Quellen verzeichnet sind. Hier kann man etwa nachlesen, dass trotz erheblicher Überlieferungslücken immerhin 560.000 Informationen von DDR-Spionen verzeichnet sind; mehr als 200.000 davon stammten aus der Wirtschaft, über 160.000 aus der Politik.
Auch die eher beiläufige Darstellung des Rosenholz-Materials ist lesenswert. Man erfährt dort zum Beispiel, dass die Stasi-Spionageverwaltung insgesamt 45.000 IM-Vorgänge registriert hatte. Die Klarnamen der meisten sind bis heute öffentlich nicht bekannt. Lobenswert ist nicht zuletzt das Bemühen des Autors, die Opfer der DDR-Spionage zum Thema zu machen: westdeutsche Fluchthelfer etwa, die ausgekundschaftet und verhaftet wurden.
Der Autor wendet sich auch den bislang bekannten Agenten im Deutschen Bundestag zu. Erstmals kann er dabei die für die Forschung früher gesperrten Bestände SIRA und Rosenholz nutzen. Manches Detail - zum Beispiel im Fall des CDU-Politikers Adolf Kanter (IM "Fichtel") - erscheint dadurch in einem anderen Licht. Dafür nimmt man gerne in Kauf, dass sich der Autor nicht an die eigene Definition des West-IM hält. Denn er handelt auch den ehemaligen deutschlandpolitischen Sprecher der Grünen, Dirk Schneider (IM "Ludwig"), ab, der keineswegs "westlich sozialisiert" wurde, sondern in der DDR aufwuchs. Man fragt sich allerdings, warum der Autor nur die bereits bekannten Fälle referiert und seinen exklusiven Quellenzugang nicht zu weitergehenden Recherchen genutzt hat.
Unverständlich bleibt auch, warum sich Herbstritt geradezu krampfhaft um den Nachweis bemüht, dass die DDR-Spionage weniger erfolgreich gewesen sei als vermutet. Um seine das Buch durchziehende Botschaft zu begründen, die Bundesrepublik sei keineswegs vom Staatssicherheitsdienst "unterwandert" gewesen, ist das von ihm zusammengetragene Material auf jeden Fall ungeeignet; oft belegt es sogar das Gegenteil.
Um die Bedeutung der DDR-Spionage einzuschätzen, müsste man zum Beispiel untersuchen, welche Folgen es hatte, dass die Bonner Politik vor den SED-Machthabern wie ein gläsernes Buch offen lag. Auszuloten wäre auch, wozu es führte, dass die DDR mit ihrem Zangengriff aus geheimen Agenten und offenen Sympathisanten die westdeutsche Opposition - von der Studentenbewegung bis zu den Gewerkschaften - beeinflusste.
Bei der Wirtschaftsspionage spricht der Autor zwar kurz deren Folgen an, meint aber, dass auch sie der DDR nicht den erhofften Gewinn gebracht hätte. Dabei blendet er nicht nur den beträchtlichen wirtschaftlichen Schaden aus, der den ausspionierten Unternehmen dadurch entstand. Auf der Strecke bleibt auch die Frage, wie es der DDR-Ökonomie ergangen wäre, wenn es den systematischen Technologiediebstahl im Westen nicht gegeben hätte.
Zuzustimmen ist dem Autor, dass die DDR-Spionage nicht alle selbst gesteckten Ziele erreicht hat. Das darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in der neueren Geschichte kein anderes Land gab, das von einem gegnerischen Geheimdienst so intensiv durchdrungen wurde wie die alte Bundesrepublik. Es bleibt zu hoffen, dass sich die Stasi-Unterlagen-Behörde endlich entschlossener dieses wichtigen Themas annimmt - und dafür nicht erneut acht Jahre ins Land gehen lässt.
Anmerkung:
[1] Georg Herbstritt: Die Westarbeit des MfS im Lichte bundesdeutscher Justizakten, in: Das Gesicht dem Westen zu. DDR-Spionage gegen die Bundesrepublik, hrsg. von Georg Herbstritt und Helmut Müller-Enbergs, Bremen 2003, 333-366.
Georg Herbstritt: Bundesbürger im Dienst der DDR-Spionage. Eine analytische Studie (= Analysen und Dokumente; Bd. 29), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, 459 S., ISBN 978-3-525-35021-8, EUR 29,90
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