In Zeiten des Klimawandels und ansteigenden Meeresspiegels blicken alle Küstengesellschaften wieder gebannt auf den Deich. Während sich in Norddeutschland die Mehrheit auf eine weitere Deicherhöhung einzustellen beginnt, fordern einige Forscher eine Anpassung an nicht mehr zu verhindernde Prozesse: Um das Risiko zu streuen, sollten sich in der Küstenlandschaft der Zukunft, Land und Meer wechselseitig durchdringen können. Blickt man auf die Geschichte der Westküste so wäre dies eine revolutionäre Abkehr. Denn der Drang zu einer geschlossenen Küstenlinie seit Errichtung der ersten Ringdeichanlagen im 11. Jahrhundert prägte nicht nur die "Oberfläche der Marschen, sondern auch das Wahrnehmen, Denken und Handeln ihrer Bevölkerung" (80). Der Deich stand in der Lebenswelt der Bewohner der nordfriesischen Westküstenmarsch häufig im Mittelpunkt größerer Konflikte.
Nicht nur der, der den amphibischen Raum hinter den "Landesschutzdeich" ausdehnen will, sollte daher die lesenswerte Dissertation von Marie Luisa Allemeyer zur Hand nehmen. Detailreich untersucht sie, wie Mensch und Meer im 17. und 18. Jahrhundert wechselseitig aufeinander Einfluss nahmen. Um der Komplexität der Lebenswelt der Küstenbewohner gerecht zu werden, skizziert die Autorin zunächst die geographischen, politischen und gesellschaftlichen Besonderheiten der Marschregion. Der ausführlichere zweite Teil widmet sich den zahlreichen Konflikten um den Deich. Dabei wird zwischen Konflikten um die "Deichsolidarität", "Konflikten um Besitz, Autonomie und Herrschaft" und "Konflikten um das Verhältnis zwischen Gott, Mensch und Natur" unterschieden. Als besonders aussagekräftig erweist sich bei all diesen Auseinandersetzungen die quellennahe Analyse zahlreicher Bitt- und Beschwerdeschriften. Vorherrschende religiöse Vorstellungen werden über Predigten und theologische Texte offen gelegt.
Die bisherige Forschung konzentrierte sich häufig auf die Geschichte des Deichwesens im engeren Sinne. Oder sie legte die Tradition der Kampfmetaphorik der Küstenbewohner gegen das Meer offen. Allemeyer verknüpft in ihrer multiperspektivischen Untersuchung der "Mikroregion Deich" (28) sozial-, wirtschafts- und rechtsgeschichtliche mit mentalitäts- und umweltgeschichtlichen Fragestellungen. Deutlich wird dies etwa an der Untersuchung der Reichweite der "Deichsolidarität". In der Praxis wurde die normative Übereinkunft, sich im Schadensfall gegenseitig zu unterstützen, ständig neu ausgehandelt. Die Bittschriften zeigen ein breites Spektrum von Begründungslogiken und Interessen auf. "Ob ein Marschbauer eine solidarische Verhaltensweise einforderte oder verweigerte, hing maßgeblich von seiner wirtschaftlichen und sozialen Situation sowie von der geographischen Lange seiner Ländereien ab" (212). Zudem wurde unmittelbar nach schweren Sturmfluten anders argumentiert als in den langwierigen Auseinandersetzungen um den Übergang zur Kommuniondeichung. Gegenüber der Kabeldeichung erschien letztere den Marschbauern als unzulässige "Entpersonalisierung der Verantwortung für den Deich" (386).
Bei den "Konflikten um Besitz, Autonomie und Herrschaft" ergibt sich ein ähnlich differenzierter Befund. Die Haltung der lokalen Bevölkerung zu den Ausweitungsversuchen überregionaler Herrschaft war durchaus geprägt von Abwehrkämpfen. Allemeyer zeigt die Reaktion auf die zunehmende Einflussnahme der zentralstaatlichen Obrigkeit seit Beginn des 17. Jahrhunderts etwa am Beispiel der so genannten "oktroyierten Köge". Konzessionen für Neueindeichungen wurden zunehmend an Ortsfremde vergeben. Die Eingesessenen setzten sich dagegen auf verschiedenen Ebenen ausdauernd zur Wehr, beanspruchten sie doch häufig selbst das Recht, eine bestimmte Vorlandfläche einzudeichen. Ebenso verteidigten die Landschaften ihre kommunalen Mitspracherechte, etwa in vielen Konflikten um die Ernennung der Deichgrafen. Aber auch hier gelingt es Allemeyer, allzu klar geschnittene Bilder zu dekonstruieren. Nach verheerenden Sturmfluten etwa zeigten sich die lokalen Interessen gegenüber dem Landesherrn und neuen Investoren in anderer Form. Landesherrliche Unterstützung wurde gerne in Anspruch genommen.
Im dritten Abschnitt werden Deich und Sturmfluten in ihren Auswirkungen auf Mentalität, Religiosität und Naturvorstellungen der Küstenbewohner untersucht. Zahlreiche Flutpredigten halfen die Leiderfahrungen ins religiöse Weltbild einzugliedern. Die Umweltgeschichte profitiert vor allem von den differenzierten Überlegungen, die von der "reichen und freigiebigen" über die "überlegene" bis hin zur "zu veredelnden Natur" (342) führen. Die letztgenannte Konzeption diente vor allem dazu, die Nutzbarmachung des Landes durch den Menschen zu propagieren. Allemeyer geht in diesem Kapitel auch Mythen wie dem Deichopfer nach, das in Storms "Schimmelreiter" popularisiert wurde. Interessanterweise fand sich in den von ihr untersuchten Quellen des 17. und 18. Jahrhunderts kein einziger Hinweis auf die vermeintliche Tradition, über ein lebendiges Sühneopfer die Haltbarkeit des Deiches zu gewährleisten.
Zur dominierenden Deutung erfahrenen Unglücks als Gottesstrafe traten bereits im 17. Jahrhundert auch säkulare Deutungsansätze. Die Schilderung dieser Überlagerungsprozesse stellt einen Höhepunkt der Studie dar, da sie einen besonders interessanten Einblick in das Weltbild der Küstenbewohner ermöglicht. Langlebige metaphysische Deutungsmuster von Sturmfluten als Ausdruck göttlichen Wollens mussten dem Vertrauenszuwachs in die Wirksamkeit von Deichen nicht unbedingt entgegenstehen. "Pointiert ausgedrückt nahm das Vertrauen in den Deich nicht zu, weil der Glaube an die göttliche Einflussnahme abnahm, sondern es nahm zu, weil die Gefahr, gegen die der Deich schützen sollte, als eine zunehmend säkulare, den Naturgesetzen unterworfene Gefahr wahrgenommen wurde" (358). Der Deichsachverständige Tetens trat 1787 öffentlich für die Konzeption des Meeres als eines "Feindes" ein, der "immer gleich bleibet. Er sieht auf keine neuen Arten des Angriffs und auf keine Kriegslist, ist an allen Orten zu allen Zeiten derselbige in seinem Verfahren" (370).
Steigt der Meeresspiegel, so könnte diese statische Sicht erneut abgelöst werden. Solch diachroner Spekulationen enthält sich Allemeyer allerdings vollständig. Vergleiche zwischen der Frühen Neuzeit und dem 20. Jahrhundert wurden jedoch in mehreren Beiträgen eines jüngst erschienenen Sammelbandes nachgeliefert. [1] In der vorliegenden Studie gelingt es der Autorin, über die präzise Analyse der Argumentationsstrukturen "den Rahmen des Denk- und Sagbaren innerhalb einer Küstenbevölkerung des 17. und 18. Jahrhunderts" aufzuzeigen (291). Zur Anschaulichkeit trägt bei, dass die volkssprachlichen Zitate elegant in den Text eingebettet sind und dem Band aussagekräftige Karten der neuen Köge beigegeben wurden. Gegenüber dem 17. Jahrhundert wird die Zeit bis zur Hochaufklärung recht schnell durchschritten. Hier fragt man sich, ob sich die Zeit innerer Reformen nicht doch stärker am Deich niederschlug. Schlägt man das Buch zu, so hat sich die kollektive Aufgabe, Norddeutschland "klimasicher" zu machen, jedoch um eine Dimension erweitert. Dynamische Strategien des langfristigen Rückzugs vom Konzept einer starren Küstenlinie, müssen die mentalen Prägungen aus der Konfliktgeschichte um den Deich berücksichtigen.
Anmerkung:
[1] Marie Luisa Allemeyer / Manfred Jakubowski-Tiessen / Salvador Rus Rufina (Hgg.): Von der Gottesgabe zur Ressource. Konflikte um Wald, Wasser und Land in Spanien und Deutschland seit der frühen Neuzeit - De la Conservación a la Ecologiá. Estudios históricos sobre el uso de los recursos naturales y la sostenibilidad, Essen 2007.
Marie Luisa Allemeyer: "Kein Land ohne Deich ...!". Lebenswelten einer Küstengesellschaft in der Frühen Neuzeit (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte; Bd. 222), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, 448 S., 13 Farbabb., ISBN 978-3-525-35879-5, EUR 61,90
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