Die Erforschung von Migration und Wanderungsbewegungen hat in Deutschland einerseits eine lange, andererseits eine erstaunlich kurze Geschichte. Die lange Geschichte beschäftigte sich seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts mit der Auswanderung aus dem deutschen Raum in überseeische, aber auch osteuropäische Gebiete. Aus der Sicht der älteren Forschung war sie durch mehrere interpretatorische Fixpunkte geprägt: Auswanderung geschah fast immer aus wirtschaftlicher Not und war immer zielgerichtet. Die Auswanderer siedelten in dem Zielland wenn möglich eng zusammen und weigerten sich, den Paradigmen des Chicagoer Assimilationsmodells zu folgen. Vielmehr versuchten sie mit aller Macht ihre Kultur und Sprache zu bewahren. Gleichzeitig aber wurden letztere mit den Leistungen der Auswanderer als die wertvollen Beiträge begriffen, die sie in die nicht-deutsche Kultur, etwa die Amerikas, einbrachten.
Auswanderungsforschung war bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein "contribution to"- Forschung. Dabei aber war der Einfluss der Chicagoer Schule auf die Forschungen, insbesondere der Moltmann-Schule, unverkennbar.[1] Beide Richtungen, jene, die das Weiterleben des Deutschtums betonte und auf Pennsylvania Dutch, Vereinsleben und deutsche Zeitungen verweisen konnte, und die andere, die den Beitrag etwa zur amerikanischen Kultur betonte, zeitigten wichtige Ergebnisse, auf der die noch immer sehr junge Migrationsforschung seit Beginn der 1990er Jahre aufbauen konnte.
Aus europäischer Perspektive sind hier sicherlich die Cambridge Population Study Group, ihr Pendant in Frankreich unter Dupâquier und das Osnabrücker Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) unter der Leitung von Klaus J. Bade zu nennen. Die Cambridge Gruppe legte 1981 als erste als Frucht interdisziplinärer Arbeit eine umfassende Studie zur Bevölkerungsgeschichte Englands vor.[2] Frankreich folgte 1995 mit einer vierbändigen umfassenden Darstellung [3] der Bevölkerungsgeschichte Frankreichs und zwei Jahre später mit einer die Darstellung der Generationen von Studierenden beglückenden Bevölkerungsgeschichte der Welt des italienischen Historikers Cipola [4] ablösenden Geschichte der Bevölkerungen Europas. [5]
Die hier zu besprechende Enzyklopädie Migration in Europa gehört in diesen Zusammenhang. Sie fügt den beinahe betäubenden Duftmarken Dupâquiers und Wrigleys eine weitere betörende hinzu, zu der man trotz einzelner Kritik das deutsch-niederländische Herausgebergremium insgesamt nur beglückwünschen kann. Mehr noch: Ich bin mir sicher, dass diese Enzyklopädie, deren Veröffentlichung in englischer Sprache angekündigt wird, in Europa nicht nur Maßstäbe setzen, sondern auch Anstöße für zahlreiche neue Forschungen geben wird.
Das dickleibige Werk - mehr als 1100 Seiten! - ist in drei Teile gegliedert: Im ersten Teil werden in längeren Essays "Idee - Konzept - Realisierung" des Unternehmens dargelegt. Für den Benutzer ist wichtig, dass hier zwei Leitkonzepte genannt werden, die den Bearbeitern der einzelnen Artikel mit auf den Weg gegeben wurde: Im "Vordergrund der Enzyklopädie" sollte die Frage nach der "Integration" der Migranten stehen (21). Dies sollte jedoch nicht, wie die Herausgeber betonen, so geschehen, dass zu dem schon bereitstehenden Material weiteres hinzugefügt werden würde: "Leitaspekt ist vielmehr die konkrete historisch-empirische Frage, warum einzelne Zuwanderergruppen in bestimmten Aufnahmekontexten in dem in Selbst- und Fremdbildern überkommenen Zeiterlebnis und im kollektiven Gedächtnis auf beiden Seiten vergleichsweise lange als zugewanderte Minderheiten bzw. als Diaspora erkennbar blieben, während andere Zuwanderungen nur wenige bzw. historisch 'kurze' oder gar keine Spuren hinterließen.' (24-25) Dem Satz merkt man an, wie um ihn in den Sitzungen des Herausgebergremiums gerungen wurde. Gemeint ist, weshalb sich die Pennsylvania Dutch in der mittelatlantischen Region der Ostküste und sonst wo in den USA noch immer als eine spezifische ethnische Gruppe verstehen und als solche auch sichtbar sind, während andererseits in vielen Ländern etwa die Hugenotten und vor allem die Salzburger Exilanten in Georgia völlig in der amerikanischen Mehrheitskultur aufgegangen sind.
Unübersehbar ist aber auch der tagespolitische Bezug dieser Schwerpunktsetzung. Das Osnabrücker Institut hat in den letzten Jahren vielfach zu den Fragen der deutschen Bevölkerungspolitik allgemein und zur Problematik der Einwanderung und Akkulturation Stellung genommen - hier wird dies thematisch als Grundproblem der Migrationsforschung (und dies ist es ja in der Tat!) formuliert und, verpackt in der Enzyklopädie, der europäischen Forschung, aber auch der europäischen Politik auf den Gabentisch gelegt. Man kann nur hoffen, dass die Politiker es nicht nur dort liegen lassen, sondern auch lesen und sich die vielen Lektionen zu Herzen nehmen.
Der zweite Essay von Dirk Hoerder und Jan und Leo Lucassen stellt "Terminologien und Konzepte in der Migrationsforschung" (28-53) vor. Anders gesagt: Dies ist der Ort, wo die Autoren des Bandes durch eine möglichst unverständliche, mit "ismen" gewürzte und unter Anrufung aller Heiligen der Wissenschaft gesegnete Diskussion mit vielen Diskursen die Theorie der Migration hätten aufbereiten können. Klaus J. Bade hatte in seinem Vorwort auf die Gefahr hingewiesen und eine theoretische Diskussion von "pragmatischer und sicher auch menschenfreundlicher Mitte" (18) angekündigt. Autoren und Herausgeber seien dafür gepriesen, dass sie dies Versprechen eingelöst haben.
Der Artikel bietet kompetent und kompakt, wie man es von einem so vorzüglich ausgewiesenen Team wie dem Bremer Historiker Dirk Hoerder und den beiden niederländischen Migrationsspezialisten Leo und Jan Lucassen erwartet, Überblicke über die älteren Ansätze der Migrationsforschung, vor allem den Einfluss der Chicagoer Schule (man hätte hier auch die einflussreiche Arbeit von Oskar Handlin noch anführen können) [6], sowie den in den letzten Jahrzehnten entwickelten neuen Forschungsansätzen zu Migration und Akkulturation. Zugleich werden in dem Beitrag in knappen Strichen die Geschichte der europäischen Wanderungen skizziert und die unterschiedlichen Formen von Wanderungen dargestellt.
Damit wird zugleich auch ein solider, allerdings nicht ganz unproblematischer Grundstock für die beiden folgenden Teile gelegt. Diese bestehen a) aus Überblicksdarstellungen über die Wanderungsgeschichte der einzelnen europäischen Länder (54-358), die wiederum in sieben regionale Bereiche zusammengefasst sind. Dem schließt sich b) dann die eigentliche Enzyklopädie in Form von Artikeln an, die spezifische Migrantengruppen darstellen. Am Anfang steht der Artikel "ägyptische 'Sans-papiers' in Paris seit den 1980er Jahren" von Detlef Müller-Mahn (359-362), am Ende der Artikel über "Zyprioten in Großbritannien seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges" von Panikos Panayi (1125-1127).
Die Autoren des einführenden Essays heben gleich zu Beginn ihrer Diskussion der Wanderungsentscheidung die zentrale Bedeutung der Familie hervor (32-34). Sie sei der Ort, wo die Frage der Migration diskutiert und beschlossen werde. Im weiteren Verlauf wird dann zwar auch auf das "politische System" als ein Kriterium für die Beschreibung der Ausgangsgesellschaft, in der die Wanderungsentscheidung getroffen wird, hingewiesen, bei der weiteren Beschreibung der Mechanismen, die zur Entscheidung und ihrer Umsetzung führen, verschwindet jedoch jeder Bezug zu Staat und Obrigkeit. "Lebensbedingungen", Interaktionen in der Familie und Informationsflüsse sind die Faktoren, an denen sich nach Ansicht der Autoren die Familien in ihrer Wanderungsentscheidung orientierten.
Der Staat wird im weiteren Verlauf denn auch nur in seiner Wanderungen behindernden Funktion erörtert (40f.) Nur an einer Stelle wird darauf hingewiesen, dass Habsburg und Russland selbst sich aktiv um die Ansiedlung von Migranten bemühten (40). Ansonsten ist staatliche Obrigkeit in dem Essay wie in den einzelnen Artikeln weitgehend ausgeblendet. Dies ist bedauerlich: Zwar ist der Forschungsstand zur Peuplierungspolitik der deutschen und europäischen Herrscher nicht gerade berauschend, aber auf ihre Bedeutung ist doch immer wieder nicht nur für die Wiederbesiedlung Ungarns nach 1680, sondern auch für Preußen (Hugenotten, Salzburger Exulanten) und andere Staaten hingewiesen worden. Die alten Gesetzessammlungen sind voll von Reskripten, in denen etwa die hannöverische Regierung um Migranten - allgemein, in vielen Fällen aber gezielt bestimmte Gruppen - für eine Region oder eine Stadt wie Göttingen wirbt. [7]
Und die Autoren erwähnen selbst die regulierende Kraft von Zuwanderungsgesetzen im 20. Jahrhundert. An anderer Stelle habe ich beschrieben, wie heftig im 18. Jahrhundert der Konkurrenzkampf zwischen den Agenten einzelner Gesellschaften, Fürsten und Regierungen um die Migranten war; nach einer vorsichtigen Schätzung auf der Grundlage von Arbeiten eines meiner Doktoranden warben die europäischen Staaten - und zwar so gut wie alle, selbst Frankreich für Louisiana - mit mehr als 200 Peuplierungspatenten im achtzehnten Jahrhundert um Migranten. [8] Immerhin erwähnt Mata Fata in ihrem Artikel über "Donauschwaben in Südosteuropa seit der frühen Neuzeit" die Rolle der habsburgischen Regierung bei der Besiedlung der zurückeroberten Gebiete (535). [9]
Mit diesen Bemerkungen will ich nicht die Bedeutung der Familie als Ort der Wanderungsentscheidung bestreiten. Aber diese Familie lebte weder in einem wirtschaftlichen noch in einem staatlichen luftleeren Raum. Wenn frühere Arbeiten die Rolle von Wirtschaft und Staat zu wenig berücksichtigt haben - aber spätestens die Arbeiten von Wolfgang von Hippel [10] hätten hier als Korrektiv wirken können - dann wird die Rolle beider in dieser Enzyklopädie zu wenig berücksichtigt. Und dies bleibt durchaus nicht ohne Folgen.
Ich will dies nur an einem kleinen Beispiel fest machen: Die Lutheraner, die im achtzehnten Jahrhundert aus Württemberg und Baden nach Nordamerika auswanderten, brachten nicht nur ihre Familienbräuche, ihre eigene Kultur, ihre Religion und ihr Wirtschaftsverhalten mit nach Amerika, sondern eben auch die Kenntnis jener staatlichen Regelungen etwa zu Erbschaften, mit denen sie sich schon in Württemberg identifiziert hatten. Wie stark dies ihr Verhalten in der mittelatlantischen Region prägte, zeigt die ausgezeichnete Arbeit von A. Gregg Roeber. [11]
Sieht man davon ab, dass insgesamt die staatliche und gouvernementale Seite in der Enzyklopädie zu wenig berücksichtigt worden ist, dann haben Klaus J. Bade und seine Mitstreiter ein Werk von beeindruckender Umfänglichkeit und Gelehrtheit vorgelegt. Überall ist die Hand des Kenners sichtbar, vor allem aber bei der Auswahl der Bearbeiter der einzelnen Beiträge. Angesichts der außerordentlichen breiten Themenvielfalt ist dies wahrlich bewundernswert.
Zwei weitere Aspekte sollten hervorgehoben werden: Die Artikel - ich habe natürlich nicht alle gelesen, denn immerhin ist dies kein schmalbrüstiges Lesebuch, sondern ein sehr umfängliches Werk - sind durchweg vorzüglich und verständlich gegliedert und folgen einem klaren, von den Herausgebern erläuterten Aufbau. Da wo ich mich auskenne, habe ich die präzise Darstellung und die Kenntnis der neuen Forschung geschätzt. Ebenso wichtig aber scheint mir, dass jedem Artikel die neuere Literatur natürlich in der Beschränkung auf das wichtigste beigegeben ist. Dies sichert der Enzyklopädie einen festen Platz in meiner Arbeitsbibliothek - sie verdient diesen Platz in allen Studierstuben, in denen Historiker der Neuzeit ihr Unwesen treiben. Politikern, Journalisten, Soziologen und Politologen schadet sie natürlich auch nicht.
Anmerkungen:
[1] Dies gilt sicherlich nicht für die Habilitationsschrift von Hans-Jürgen Grabbe: Vor der großen Flut. Die europäische Migration in die Vereinigten Staaten von Amerika, 1783-1820, Stuttgart 2001.
[2] E. A. Wrigley / R. S. Schofield: The Population History of England 1541-1871. A Reconstruction, London 1981.
[3] Jacques Dupâquier: Histoire de la Population française, 4 Bde., Paris 1995.
[4] Carlo M. Cippola: The Economic History of World Population, Harmondsworth 1965.
[5] Jean-Pierre Bardet / Jacques Dupâquier (eds.), Histoire des populations de l'Europe, 3 Bde, Paris 1997-1999.
[6] Oscar Handlin: The Uprooted. The epic story of the great migrations that made the American people, 2nd ed., Boston 1973; Handlin war wenig überraschend auf amerikanischer Seite der große Verfechter des "contribution to" Ansatzes cf. Oscar Handlin (ed.): The positive contribution by immigrants. A symposium prepared for the UNESCO by the International Sociological Association and the International Economic Association, Paris 1955.
[7] Carola Brückner et al.: "Vom Fremden zum Bürger. Zuwanderer in Göttingen, 1700-1755", in: Hermann Wellenreuther (Hg.): Göttingen, 1690-1755. Studien zur Sozialgeschichte einer Stadt, Göttingen 1988, 88-175; Norbert Winnige: Krise und Aufschwung einer frühneuzeitlichen Stadt. Göttingen 1648-1756, Hannover 1996.
[8] Hermann Wellenreuther: "Recent Research on Migration", in: Hartmut Lehmann / Hermann Wellenreuther / Renate Wilson (Hgg.): In Search of Peace and Prosperity. New German Settlements in Eighteenth-Century Europe and America, PA 2000, 265-306; Derselbe, "Migration in the Early Modern World. The European Migrating Experience, Transatlantic Migration, and the Genesis of American Culture", ibid., 3-38.
[9] Dazu jetzt ausführlich Claus Heinrich Gattermann: Die Baranya in den Jahren 1686 bis 1713. Kontinuität und Wandel in einem ungarischen Komitat nach dem Abzug der Türken, Göttingen 2005.
[10] Wolfgang von Hippel: Auswanderung aus Südwestdeutschland. Studien zur württembergischen Auswanderung und Auswanderungspolitik im 18. und 19. Jahrhundert (= Industrielle Welt. Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte, Bd. 36), Stuttgart 1984.
[11] A. Gregg Roeber: Palatines and Liberty. German Lutherans in Colonial British America, Baltimore 1993.
Klaus J. Bade / Pieter C. Emmer / Jochen Oltmer et al. (Hgg.): Enzyklopädie Migration in Europa vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2007, ISBN 978-3-506-75632-9
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