Am 14. Mai 2008 jährt sich die Nakba, die "Katastrophe", als welche die Menschen in den arabischen Ländern die Gründung des Staates Israel und die anschließende Flucht der Palästinenser bezeichnen, zum sechzigsten Mal. Auch heute bleibt das Schicksal der palästinensischen Flüchtlinge eines der Schlüsselprobleme des Nahostkonflikts. Die Frage nach Rückkehr oder Verbleib von über 4,7 Millionen Palästinensern, die gegenwärtig außerhalb ihres Heimatlandes leben, ist deshalb ein stets virulentes Thema, über das nicht nur von der israelischen und palästinensischen Delegation auf dem soeben beendeten Gipfeltreffen von Annapolis geredet worden sein dürfte. Sie betrifft vielmehr alle arabischen Anrainerstaaten, die seit dem Ende des ersten israelisch-arabischen Kriegs 1948 und dem Sechs-Tage-Krieg 1967 den Großteil der Palästinenser aufgenommen haben. Unter diesen Staaten trägt Jordanien die Hauptlast. Das haschemitische Königreich beherbergt circa 55 Prozent aller palästinensischen Flüchtlinge, die weit über 40 Prozent der jordanischen Gesamtbevölkerung ausmachen. Mit den politischen, ökonomischen und vor allem gesellschaftlichen Auswirkungen beschäftigt sich das vorliegende Buch von Khaled Al- Dabbas.
Es ist das erklärte Ziel des Autors, der sozialen Polarisierung zwischen Jordaniern und Palästinensern in Jordanien auf den Grund zu gehen, die spätestens seit den bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen jordanischer Armee und PLO-Milizen im Schwarzen September 1970 immer deutlicher zu Tage tritt. Noch heute leben ein Großteil der Palästinenser, die zwar in der Regel einen jordanischen Pass besitzen, offiziell jedoch weiterhin als Flüchtlinge geführt werden, in Flüchtlingscamps unter schwierigen sozialen, politischen und finanziellen Bedingungen. Unter diesen Lebensumständen sowie in dem Gefühl, allzu oft der jordanischen Staatsräson geopfert worden zu sein, sehen sie sich als Verlierer der jordanischen Israel-Politik. Aus Sicht breiter jordanischer Bevölkerungsschichten hingegen werden sie als ernste Gefährdung des jordanischen Staates und der jordanischen Identität wahrgenommen. Dabbas, selbst ein gebürtiger Ostjordanier (die Geographie liefert hier einen Hinweis auf seine nicht-palästinensische Herkunft), analysiert in seinem Buch die Ursachen und Erscheinungsformen dieses sozialen Konflikts.
Dabbas gliedert seine Untersuchung in zwei Teile, einen theoretischen und einen empirischen. Nach der Definition der für die Arbeit entscheidenden Termini findet sich entsprechend im dritten Kapitel eine zehnseitige Überblicksdarstellung zu den einzelnen Strängen sozialwissenschaftlicher Konflikttheorien. Der hieran anschließende erste Teil der Arbeit bietet dann allerdings weniger eine theoriegeleitete Analyse, sondern vielmehr eine historisch-deskriptive Darstellung der Ereignisse seit dem Arabischen Aufstand während des Ersten Weltkriegs bis hin zur zweiten Intifada im Jahre 2000.
Zweifelsohne ist der historische Hintergrund wichtig für das Verständnis der heutigen Beziehungen zwischen Palästinensern und Jordaniern, zumal die Beschreibung der Vorgänge stets in Hinblick hierauf erfolgt. Dennoch wäre eine detailliertere Ausführung der aktuellen Situation in Jordanien wünschenswert gewesen. Der von König Abdullah II. im Herbst 2002 lancierten, für das Zusammenleben von Palästinensern und Jordaniern wichtigen "Jordan First"-Kampagne etwa, welche darauf abzielt, die jordanische Bevölkerung auf eine nationale Identität einzuschwören, von Palästinensern hingegen als eine deutliche Distanzierung von Palästina wahrgenommen wird, widmet Dabbas nicht mehr als eine halbe Seite (149 f.).
Als informativ und gelungen können indessen die Kapitel bezeichnet werden, die einen Einblick in die gegenwärtigen Lebensumstände palästinensischer Flüchtlinge in Jordanien gewähren - so zum Beispiel das sechste Kapitel, in dem sozioökonomische Eckdaten die Lebensverhältnisse der Palästinenser veranschaulichen. Vor allem aber das zehnte Kapitel, in welchem die Erscheinungsformen palästinensisch-jordanischer Spannungen geschildert werden: die Fremdbezeichnung der Palästinenser als "Belgier", die Politisierung des jordanischen Fußballs oder die Symbolik ost- und westjordanischer Dialekte.
Als ausgesprochen wertvoll muss zudem der empirische Teil der Untersuchung bezeichnet werden. Hier präsentiert der Autor die Ergebnisse seiner Feldstudie, die 2005 im nordjordanischen Flüchtlingslager Irbid durchgeführt wurde. Anhand persönlicher Interviews und der quantitativen Auswertung von 700 ausgeteilten Fragebögen gelingt es Dabbas, einen wichtigen Beitrag zur Ursachenforschung sozialer Spannungen in Jordanien zu leisten. Die sorgfältig durchgeführte Erhebung und Analyse der Datensätze liefern an vielen Stellen die Bestätigung dessen, was in anderen Untersuchungen zur selben Thematik oftmals als These im Raum stehen bleiben muss: etwa dass die Mehrheit der Jordanier die Anwesenheit der palästinensischen Flüchtlinge als den entscheidenden Grund für die schleppende Entwicklung im Sozial-, Bildungs- und Gesundheitssektor ansieht, während sich die Palästinenser vom Fortschritt in diesen Bereichen ausgeschlossen sehen (220); dass es grundlegende Unterschiede in der Interpretation von Ursachen und Vorgängen während des Schwarzen Septembers gibt (192, 212); oder dass beide Bevölkerungsgruppen bevorzugen, Freundschaften und Ehen innerhalb der eigenen Gemeinschaft zu schließen (221).
Insgesamt veranschaulicht die empirische Untersuchung eindrucksvoll, dass der soziale Konflikt in Jordanien real ist und von beiden Parteien als solcher wahrgenommen wird. Inhaltliche Kritikpunkte beschränken sich entsprechend auf die ersten Kapitel der Arbeit. So verwendet der Verfasser in seinen Ausführungen zur Entstehung des innerjordanischen Konflikts fast ausschließlich arabische Quellen und neigt des öfteren zu wertenden Aussagen, wenn er auf die israelische Politik gegenüber den Palästinensern zu sprechen kommt (etwa "butchery", 48). Hinsichtlich der verwendeten Literatur kann allgemein eingewendet werden, dass Dabbas wichtige neuere Veröffentlichungen zum Thema nicht in seine Analyse mit einbezieht. [1] Unerfreulich ist zudem die uneinheitliche Umschrift arabischer Wörter und Namen.
All dies jedoch schmälert nicht den Wert dieser Arbeit, die auf bemerkenswerte Weise das Ausmaß sozialer Polarisation in Jordanien belegt. Indem Dabbas die Konfliktlinien zwischen Palästinensern und Jordaniern aufzeigt, liefert er zugleich die Grundlage zum tiefgehenden Verständnis einer Auseinandersetzung, die von offizieller Seite gerne kleingeredet wird. Und das, obwohl sich der soziale Unfrieden in Jordanien eher zu verschlechtern droht angesichts des Zustroms von circa 750.000 irakischen Flüchtlingen seit dem Irakkrieg 2003.
Anmerkung:
[1] Zum Beispiel Birgit Embaló: Palästinenser im arabischen Raum. Syrien, Libanon, Jordanien, Palästina 1948-1988, Wiesbaden 2000; Ala al-Hamarneh: Palästinensische Flüchtlinge in Jordanien zwischen Integration, Assimilation und Rückkehr, in: Günter Meyer (Hg.): Die arabische Welt im Spiegel der Kulturgeographie, Mainz 2004, 264-271.
Khaled Al-Dabbas: Palestinians in Jordan. Integration, Social Disaffection, and Political Conflicts, Berlin: Wissenschaftlicher Verlag Berlin 2006, XXI + 273 S., ISBN 978-3-86573-181-4, EUR 34,00
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.