Seit den blutigen Konflikten in Südosteuropa in den Neunzigerjahren, mehr noch seit dem September 2001, ist in den Geistes- und Sozialwissenschaften ein stark anwachsendes Interesse an dem Phänomen Grenze festzustellen, das sich auch in einer Reihe von historischen Publikationen niederschlug. [1]
In insgesamt 32 Aufsätzen vereint der vorliegende Sammelband die Beiträge des 11. Symposiums des Mediävistenverbandes in Frankfurt an der Oder (14. bis 17. März 2005). Der Konzeption des Verbandes gemäß, werden insofern die Fächergrenzen überschritten, als neben Historikern und Literaturwissenschaftlern auch Kunsthistoriker, Philosophen und Theologen, Medizinhistoriker und Mittelalterarchäologen zu Wort kommen: Wissenschaftler aus insgesamt vier europäischen Ländern - davon, der grenzüberschreitenden, jungen Tradition der Europa-Universität Viadrina entsprechend, allein vier aus Polen.
Die Sektionen der Tagung (Leben an Grenzen; Grenzen der Gesellschaft; Grenzen der Kommunikation; Grenzen des Wissens) spiegeln sich auch in dem Band wider: Sie liegen bewusst quer zu den Fächergrenzen und den angesprochenen Grenzarten im herkömmlichen Sinn - unter anderem politische, soziale, sprachliche, kulturelle, religiöse Grenzen. So werden innerhalb der letztgenannten Sektion beispielsweise die interreligiösen Missverständnisse hinsichtlich der Rolle des Propheten Mohammed auf Seiten der europäischen Christen (Folker Reichert) ebenso behandelt wie soziale Grenzüberschreitungen in Hartmanns von Aue literarischem Werk "Gregorius" (Silke Grothues). Nicht in jedem Fall ist dabei die interne 'Grenzziehung' geglückt; so scheint etwa dem Rezensenten der gelungene Beitrag von Ortrun Riha zur Teilausgrenzung Aussätziger eher in die Sektionen "Leben an Grenzen" oder "Grenzen der Gesellschaft" zu passen statt in die Sektion "Grenzen des Wissens".
Auch wenn einzelne konzeptionelle Schwächen des Bandes zu konstatieren sind, ändert dies nichts an dem Gesamteindruck, dass sich die einzelnen Aufsätze meist in durchaus innovativem Rahmen bewegen. Aline Kottmann benennt Chancen und methodische Probleme der Mittelalterarchäologie bei der Erforschung sozialer Abgrenzungsvorgänge. Rafał Simiński weist für Livland nach, dass der Austausch der Herrschaftsschicht nach der Eroberung des Baltikums im 13. Jahrhunderts eine lineare Grenzbeschreibung im lokalen Kontext notwendig machte, wobei jedoch die nun meist deutschen Herrschaftsträger auf die mündliche Traditionen Einheimischer und Riten der Grenzbeschreibung nicht verzichten konnten. Kirsten O. Frieling zeigt anhand der Kleidung von Reichsfürsten des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts die Dichotomie der Mode in Spätmittelalter bzw. Frühneuzeit - einerseits als Mittel sozialer sowie nationaler und regionaler Abgrenzung, andererseits als grenzüberschreitendes Phänomen, das letztlich zu Mischformen führen konnte. Peter K. Klein behandelt die Randbilder in der mittelalterlichen Kunst (z.B. Teppich von Bayeux) und kommt zu dem Ergebnis, dass die "metaphorische Symbolik des Raumes" (179) meist auch die sozialen Grenzen widerspiegelt, in dem Sinne, als auf den Randbildern oft die sozialen Randgruppen oder gesellschaftliche Grenzüberschreitungen (z.B. Unzucht) dargestellt wurden. Christiane Witthöft beschreibt die "Grenzen symbolischer Kommunikation" (296) am Beispiel fiktiver jüdisch-christlicher Streitgespräche im Spätmittelalter, wobei sie die Barrieren des gegenseitigen Verstehens von Gesten aufzuzeigen sucht. Joern-Martin Becker, Doris Bulach und Ulrich Müller nehmen die deutsch-slawischen Beziehungen im späteren Mittelalter in den Blick, wobei sie einerseits Strategien der Ausgrenzung nichtdeutscher Handwerker im ostniederdeutschen städtischen Raum darstellen, andererseits den Umfang sprachlichen (Entlehnungen) und handwerklich-technischen Austauschs beleuchten. Felicitas Schmieder konstatiert, dass die jegliche Grenzen ignorierende mongolische Expansion des 13. Jahrhunderts, die zwangsläufig zu einer Kultur der Mehrsprachigkeit im Mongolenreich führte, die Bereitschaft der lateinischen Christen förderte, aus Missions- und Handelsgründen lateinisch-christliche Sprachgrenzen zu überwinden. Hanns Peter Neuheuser thematisiert in seinem systematischen Beitrag die kleinräumige Grenze zwischen sakralem und profanem Raum im lateinisch-christlichen Denken, wobei er zwischen legitimierter, liturgischer Grenzüberschreitung (beispielsweise Weihe ehemals heidnischer Kultstätten) und illegitimer Grenzüberschreitung, also Grenzverletzung (Sakrileg), unterscheidet. Als weitere Form der Transgression konstatiert er die "gezielten Grenzüberschreitungen" (357) als Mittel der sakralen Einbettung von Herrschaft, Recht und Alltag (Herrscherweihe, Eid, Ehe, Begräbnis etc.).
Die Beispiele mögen genügen, um die Vielfalt der Zugriffe auf die Problematik Grenze und Grenzüberschreitung zu veranschaulichen. Der interdisziplinäre Anspruch des Bandes ist insoweit erfüllt, als die verschiedenen mediävistischen Disziplinen zu Wort kommen. Die einzelnen Beiträge bewegen sich freilich ganz überwiegend im traditionellen Rahmen ihrer Fachdisziplin. Hier hätte sich der Rezensent an manchen Stellen zumindest ein stärkeres Eingehen auf die Vielfalt des Publikums und dessen Vorkenntnisse gewünscht. Dies betrifft unter anderem den voraussetzungsreichen philosophiehistorischen Beitrag von Rolf Darge zur spätmittelalterlichen Lehre vom transzendentalen Guten. Auch wäre zu fragen, ob etwa Wiesław Długokęckis - auf durchaus intensivem Quellenstudium basierende - Spezialuntersuchung zur genauen Grenzziehung zwischen dem Deutschordensland Preußen und dem Herzogtum Masowien zwischen 1343 und 1422 nicht eher in einen Band zur Deutschordensgeschichte passen würde als in einen interdisziplinären Tagungsband. Bei manchem Beitrag scheint dem Rezensenten der Begriff der Grenze bzw. der Grenzüberschreitung arg strapaziert zu sein. Dies betrifft beispielsweise den genannten Aufsatz von Rolf Darge - hier wirkt die Interpretation der allmählichen Durchsetzung einer neuen philosophisch-theologischen Deutungsrichtung als Grenzüberschreitung ein wenig konstruiert.
Die Einbettung in den jeweiligen Forschungskontext betreiben nur einzelne Beiträge explizit (hier hervorstechend Peter Klein). Leider verzichten die Herausgeber auf eine systematische Zusammenfassung, was der disziplinären und thematischen Vielfalt der Beiträge geschuldet sein mag. Diese Lücke vermag auch der durchaus anregende, einführende Beitrag von Karl Schlögel nicht zu füllen, der aus der Sicht eines Osteuropahistorikers das Phänomen der Grenze im modernen Europa beleuchtet. So entsteht insgesamt das Bild eines Bandes, der um Interdisziplinarität bemüht ist und diesen Anspruch auch formal erfüllt, doch die Grenzen der traditionellen Disziplinen nur an einigen Stellen überschreitet. Anstöße für die Forschung innerhalb dieser Disziplinen vermag er gleichwohl zu geben.
Anmerkung:
[1] Jüngst der fast gleichlautende Sammelband von Klaus Herbers / Nikolas Jaspert (Hgg.): Grenzräume und Grenzüberschreitungen im Vergleich. Der Osten und der Westen des mittelalterlichen Lateineuropa, Berlin 2007.
Ulrich Knefelkamp / Kristian Bosselmann-Cyran (Hgg.): Grenze und Grenzüberschreitung im Mittelalter. 11. Symposium des Mediävistenverbandes vom 14. bis 17. März 2005 in Frankfurt an der Oder, Berlin: Akademie Verlag 2007, XI + 517 S., 39 Abb., ISBN 978-3-05-004330-2, EUR 59,80
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.