In Experimentalsysteme und epistemische Dinge (2001) hatte Hans-Jörg Rheinberger eine Epistemologie des modernen Experimentierens und eine Historiographie der Wissenschaft zugleich entworfen, und diese drittens mit einer Fallstudie zur Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas verknüpft. Seine "Studien zur Geschichte der modernen Biologie" in Epistemologie des Konkreten (1999) und die in Iterationen (2005) gesammelten Arbeiten sind Momentaufnahmen der Entstehung einer neuen Sicht auf die Wissenschaftsentwicklung unter Ablösung von der Biologiegeschichte. "Das Schreiben", sagte Rheinberger in seiner Rede Über die Kunst, das Unbekannte zu erforschen, aus Anlass der Preisverleihung der cogito-foundation (2006), "ist selbst ein Experimentalsystem". Nun hat sich also das Gedankenexperimentieren des Biologen und Wissenschaftshistorikers in einem Büchlein zur Zusammenschau der "Historisierung der Wissenschaftsphilosophie" und der "Epistemologisierung der Wissenschaftsgeschichte" im 20. Jahrhundert verfestigt.
Rheinberger zeigt im ersten Kapitel Fin de Siècle anhand von Gedankengängen Emil Du Bois Reymonds und Ernst Machs, wie die Mechanik ihre Sonderstellung als Grundlagenwissenschaft verlor und das Philosophieren über Naturwissenschaft mit der Suche nach nicht-mechanischen Naturerklärungen begann. Der Wissenschaftspluralismus Emil Boutroux', der schon vor Aufkommen der Quantenmechanik "im Herzen der messenden Wissenschaft selbst einen faktischen Raum der Unbestimmtheit" postulierte, wird Ansatz für die historische Epistemologie, denn Die Kontingenz der Naturgesetze (Boutroux' Dissertation, 1874) bedeutet nicht nur die erwähnte Unbestimmtheit von Messgrößen, sondern auch jene der historischen Entwicklung der Wissenschaften, die Henri Poincaré in Der Wert der Wissenschaft (1905) mit der biologischen Evolution verglich: Vielerlei Veränderungen führen zu mancherlei Formen, die einander nach geraumer Zeit nicht mehr ähneln, obwohl sie doch von einer Form abstammen, wie für den Kundigen erkennbar ist, und so könne man "auch den heutigen Gebilden des Wissens die Spuren ihrer Herkunft ansehen", man finde "Invarianten ..., die den Bauplänen des Wissens zugrunde liegen." (27) Schon in Wissenschaft und Methode (1902) hatte Poincaré in längst verfallenen wissenschaftlichen Theorien, "die beanspruchen, uns zu lehren, was die Dinge sind" etwas gefunden, "was fortbesteht": die Stabilität gewisser Relationen, die sich auch in jenen Theorien finde, die den Platz früherer Theorien ausfüllen.
Auf die Ablösungen alter Theorien durch neue, wie sie Karl Popper in der Logik der Forschung (1934) mit dem Falsifikationsprinzip bzw. Thomas S. Kuhn als Paradigmenwechsel in Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (1962) interpretierte, geht Rheinberger im dritten bzw. vierten Kapitel ein. So verschieden diese beiden Deutungen wissenschaftlichen Fortschritts durch Theorienverwerfung bzw. Umwälzungen sind, so zeigen sie doch beide eine Nähe zum biologischen Evolutionsprinzip. Poppers kritischer Rationalismus mündete in seinem "evolutionären Entwurf" Objektive Erkenntnis (1972), während Kuhn sich klar von einer teleologischen Deutung der Wissenschaftsentwicklung distanzierte: Dieser Vorgang sei "von hinten getrieben" und "nach vorne offen". Erst Stephen Toulmins von diesen beiden sich abgrenzende komplexe "historische Ökologie" ist ein historisch-philosophisch begründetes Wissenschaftsevolutionsmodell: Viele unterschiedliche Wissensbedingungen und -anforderungen trügen zu einer "Umwelt" bei und die Selektion ergebe sich aus vielen Faktoren. Die allmählichen und unvorhersehbaren Veränderungsprozesse seien gründlich historisch zu untersuchen; jede auf Prinzipien bauende Methode bleibe da wenig erfolgreich. Paul Feyerabends aus ähnlicher Überzeugung resultierendes "Anything goes" sah eine völlig kontingent verlaufende Geschichte und resultierte im wissenschaftshistorischen Wissenschafts- und Methodenpluralismus.
In Rheinbergers "Historischen Epistemologie" werden zwei gleichzeitig verlaufene und miteinander verwobene Prozesse verschmolzen: die Historisierung der Wissenschaftsphilosophie, und die Epistemologisierung der Wissenschaftsgeschichte. Ein zweiter Gang durch die vorliegende Einführung soll diese beiderseitige Durchdringung verdeutlichen. Wilhelm Dilthey hat in seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883) "Begriffe wie Kraft, Atom, Molekül" als "Hilfskonstruktionen" und "geschichtliche Erzeugnisse des mit den Gegenständen ringenden logischen Geistes" bezeichnet, und damit für Rheinberger eine das Fin de Siècle kennzeichnende Haltung eingenommen. Dilthey wird zwischen Boutroux und Poincaré abgehandelt. Es folgt Otto Neurath, der am Beispiel einer Geschichte der Optik epistemologische Wissenschaftsgeschichte betrieb, die auch die "Bilder und Bildchen ins Auge fasst, welche die einzelnen Forscher sich machten". Im zweiten Kapitel treffen Kenner der Rheinbergerschen Arbeiten auf alte Bekannte: Gaston Bachelard und Ludwik Fleck. Der von Bachelard anvisierte neue wissenschaftliche Geist (1934) ignoriert Rationalismus und Empirismus, um Vorschriften der Bedingungen der Möglichkeiten von Wissenschaft zu entgehen und interessiert sich vielmehr für die Produktionsstätten des Wissens. Der neue wissenschaftliche Geist realisiert sich "als eine Geschichte von Verwicklungen in die Phänomene, die er untersucht" (42), er ist aber auch "seinem Wesen nach eine Korrektur von Wissen" (45). Dieser historisch unumkehrbare und evolutionäre Prozess lässt sich nicht rational konstruieren - er verläuft kontingent. Auch Fleck, der wie Bachelard von dem durch die Entstehung der Quantenmechanik eingeleiteten Wissenschaftsumbruch geprägt war, betonte die Wichtigkeit der Laborwirklichkeit für die Epistemologie, die historisch aufzufassen sei, da die in den "Denkkollektiven" gepflegten "Denkstile" offensichtlich eine Geschichte haben.
Im dritten Kapitel geht Rheinberger auf das Werk Edmund Husserls ein, der nach dem ersten Weltkrieg eine Krisis der europäischen Wissenschaften (1936) und eine Krisis des europäischen Menschentums (1935) aufgrund der positivistischen bzw. naturalistischen Wissenschaft und ihrer technisierten Methoden konzedierte, und zur Krisenbewältigung für eine historische Erkenntnistheorie plädierte. Martin Heidegger erblickte in Die Zeit des Weltbildes (1938) das Wesen der modernen Wissenschaft in der Forschung, die mit dem Öffnen eines Bezirkes beginne: "In der Forschung wird das Erkennen zum »Vorgehen« in einem nach vorne offenen Raum." Solche neuen Öffnungen beziehen sich sowohl auf die in diesem Raum herrschende Rationalität als auch auf die Zeitdimension: Strenge und Exaktheit hängen von den Objekten bzw. Phänomenen ab, die sich in der Zukunft realisieren werden. Wissenschaftliche Weltaneignung, so Ernst Cassirer in seiner Philosophie der symbolischen Formen (1929), sei ein "fortschreitender, niemals abbrechender Prozess", und an der neuzeitlichen Wissensproduktion nehme, wie er in seinen Studien zur Logik der Kulturwissenschaften (1942) schrieb, "jede Energie des Geistes in ihrer eigenen Weise teil". In diesem historischen Prozess entstünden neue Sinnverkörperungen der physischen Objekte - Cassirer nennt sie "Kulturobjekte" - Objekte der Kulturgeschichte der Wissenschaften.
Im fünften Kapitel wird Georges Canguilhems Sicht der Wissenschaftsgeschichte als "epistemisches Labor" skizziert, in dem es jene Pfade zu rekonstruieren gilt, auf denen die den Objekten zugeordneten Begriffe den Raum möglicher Bedeutungen durchlaufen. Der zweite hier herangezogene Philosoph der poststrukturalistischen Wende ist Louis Althusser, der auf dem historischen Materialismus aufbauend die Erkenntnis als "unabschließbaren Produktionsprozess" verstand. An die Kontingenz der Geschichte und die Betonung praktischen gegenüber begrifflich-theoretischen Vorgehens in der Wissenschaft knüpfte Michel Foucaults Archäologie des Wissens (1969). Die Entfernung von der Ideengeschichte erbrachte die Erfassung der "diskursiven Bedingungen der Möglichkeit, gewisse Sagbarkeiten und Praktizierbarkeiten zu erzeugen" (106). Welche Mittel gehen in die Wissensproduktion ein? Welche Medien benutzt das Wissen? Jacques Derridas antwortete darauf in der Grammatologie (1967) mit dem Begriff der generalisierten Schrift und Rheinberger selbst - einer der Übersetzer von Derridas Buch ins Deutsche - etablierte "epistemische Dinge" als solche "Spuren", entlang derer die historische Epistemologie ihrer rekonstruktive Aufgabe nachgeht.
Abgewandelt wurde diese Metapher mit dem Vorgang der "Inskription" auch in der Wissenschaftsforschung tragfähig, die im letzten Kapitel an den Arbeiten von Bruno Latour diskutiert wird. In dessen "symmetrischer Anthropologie" Wir sind nie modern gewesen (1991) verschwimmen die Grenzen zwischen "natürlich", "sozial" und "diskursiv", und es erscheinen Gewebe, die "gleichzeitig real wie die Natur, erzählt wie der Diskurs, kollektiv wie die Gesellschaft sind": "Hybride", die Latour als den Menschen gleichgestellte handelnde Agenten in der Geschichte versteht. Ähnlich klingt es, wenn Ian Hacking in Representing and Intervening (1983) die Autonomie des Experimentierens thematisiert: "Das Experimentieren" habe "ein Eigenleben", es erzeuge neue Phänomene, für die es noch keine theoretische Erklärung gibt. Menschen griffen aber nicht nur durch Experimente sondern auch durch ihr Darstellungsvermögen in die Natur ein, sie formten einen Begriff von der Wirklichkeit nachdem sie ihn dargestellt haben, und ihr gemäß! Und oftmals uneindeutig!
Rheinbergers Interpretation zahlreicher Brüche in den Wissenschaften des 20. Jahrhunderts, zeigt die wichtige Rolle der Historisierung der Epistemologie, die sich zudem ebenfalls pluralisiert hat. So kann Rheinbergers Buch auch nur als eine Geschichte der Historischen Epistemologie gelten, der bald weitere folgen sollten!
Hans-Jörg Rheinberger: Historische Epistemologie zur Einführung, Hamburg: Junius Verlag 2007, 160 S., ISBN 978-3-88506-636-1, EUR 12,90
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