Rechtspluralismus oder legal pluralism gehört zu den festen Konstanten muslimischer Gesellschaften in der Vergangenheit und in der Gegenwart. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass die Wechselwirkungen und Verschmelzungen von Gewohnheitsrecht und islamischen, internationalem und staatlichem (kolonialem und post-kolonialem) Recht schon seit einiger Zeit zum Gegenstand der Forschung geworden sind. Die Autoren dieses Bandes, der aus einer Tagung zum Thema Gewohnheitsrecht (Adat-Recht) zwischen Staat und Gesellschaft. Mittelasien/Kaukasus im Vergleich mit anderen Regionen der Islamischen Welt (Bamberg, 26.-28. September 2003) hervorging, bieten ein breites Panorama dieses Phänomens, sowohl in regionaler wie auch in zeitlicher Hinsicht. Der Blick reicht von der Frühzeit des Islams bis in die Gegenwart und von der arabischsprachigen Welt über Iran, Afghanistan, Mittelasien und Nordkaukasus bis hin nach Indonesien und Südosteuropa. Im Zentrum der Analysen steht das Gewohnheitsrecht (= Adat-Recht), das die Herausgeber definieren als ein "System oder eine Sammlung von Normen und Verfahrensweisen, welche sich historisch aus dem Brauchtum von sozialen Gruppen und Gemeinschaften entwickelt haben" (1). Diese benutzen, tradieren und modifizieren es bis in die Gegenwart, sei es mündlich oder auch schriftlich in Form von Adat-Büchern. Der im Untertitel genannte Staat (oder besser: übergeordneter Herrschaftsverbund) ist im Laufe der Geschichte, so liest man es in der Einleitung und so erfährt man es auch aus den Beiträgen, auf unterschiedliche Weise mit dem Gewohnheitsrecht verfahren. Er hat zum einen die Möglichkeit genutzt, auf den lokalen oder regionalen Usancen aufzubauen. Oder er versuchte, wie es etwa die Hohe Pforte tat, die Adat innerhalb eines Großreiches in das islamische Recht einzubinden. Natürlich stand ihm auch die Option offen, das staatliche Recht (gegen oftmals erbitterten Widerstand) möglichst vollständig durchzusetzen. Und schließlich brachten Invasoren in vielen Fällen ihr eigenes Gewohnheitsrecht mit, so dass es zu bemerkenswerten Vermischungen der Rechtsebenen gekommen ist. Eine grundsätzliche Veränderung dieser vier Grundprinzipien erwirkten dann die europäischen Kolonialmächte. Russland zum Beispiel ließ im 19. Jahrhundert das Gewohnheitsrecht in vielen Bereichen in Kraft. Man richtete sogar feste indigene Gerichte ein, was vielerorts zu einer Aufzeichnungen der Adat führte. Interessanterweise ist auf diese Weise häufig genug neues Gewohnheitsrecht geschaffen worden. Die Haltung vieler imperialer Mächte zu den Adat kann als ambivalent bezeichnet werden. Einerseits war man auf die Kooperation der einheimischen Bevölkerung angewiesen, andererseits sollte am Ende die Etablierung europäischer Rechtsnormen stehen. In der Regel sahen die Kolonialherren die indigenen Rechtsformen als ein wichtiges Gegengewicht zu dem als verderblich erachteten islamischen Recht an.
Der Band besteht, wie erwähnt, aus 20 Artikeln, die sich zum einen alle durch ein sehr hohes Niveau auszeichnen und die zum anderen durch den Fokus auf die Interaktion des Gewohnheitsrechts mit anderen Rechtsformen und -normen inhaltlich zusammengehalten werden. Dennoch bleibt nach der Lektüre natürlich das Gefühl einer großen räumlichen und zeitlichen Heterogenität und einer gewissen Beliebigkeit, was die Fallbeispiele angeht.
Da es wenig sinnvoll ist, an dieser Stelle auf alle Aufsätze einzugehen, nur ein paar Worte zu einzelnen Beiträgen. Herausgehoben werden können neben den Kontributionen der Herausgeber meines Erachtens die großartigen Ausführungen von Ralf Elger zur Rechtspraxis in Südmarokko, von Franz und Keebet von Benda-Beckmann zum Rechtspluralismus in Indonesien, von Maurus Reinkowski zum albanischen Kanun während der osmanischen Herrschaft und von Bert Fragner zum mongolischen Gewohnheitsrecht, das in der Zeit nach dem Eindringen in muslimisches Territorium von den islamischen Nachfolgestaaten in gültige Rechtspraxis überführt wurde. Weitere Höhepunkte stellen sicherlich die Beiträge der osteuropäischen Kollegen und Kolleginnen dar: Sergej Abašin zu den Diskursen über Scharia und Gewohnheitsrecht im mittelasiatischen Kontext, Ol'ga Brusina zur Inkorporation der traditionellen Biy-Gerichte in die russische Verwaltung Kasachstans, Irina Babič zur Rolle des Gewohnheitsrechts in der russischen Politik im nordwestlichen und zentralen Kaukasus, Timur Aytberov zu Rechtsdokumenten awarisch-tschetschenischer Fürsten des 17. Jahrhunderts, Vladimir Bobrovnikov zur Pfändung in Selbsthilfe (iškīl) in Daghestan und Zaylagi Ž. Kanžaliev zum kasachischen Adat-Recht.
Rechtspluralismus ist, so kann nach der Lektüre dieses Bandes festgehalten werden, natürlich bis heute ein bestimmender Faktor der meisten islamisch geprägten Gesellschaften: "Legal pluralism is the fact. Legal centralism is a myth, an ideal, a claim, an illusion", wie John Griffith in seinem wegweisenden Artikel "What is legal pluralism?" so treffend formuliert. [1] Hinzu kommt aber auch die Erkenntnis: "Customary law is not customary" (Martin Chanock). Gewohnheitsrecht wurde im 19. und 20 Jahrhundert in vielen Fällen erst von der Kolonialmacht produziert, zumindest aber wesentlich transformiert. Das Adat-Recht ist darüber hinaus nicht statisch, sondern ändert sich fortwährend in der Auseinandersetzung mit anderen Rechtssystemen. Der hier vorgelegte Band bietet vor diesem Hintergrund viele neue Ansätze zur Bestimmung und zur Erforschung rechtspluraler Konstellationen in muslimischen Gesellschaften.
Anmerkung:
[1] John Griffith: What is legal pluralism?, in: Journal of Legal Pluralism and Unofficial Law 24 (1986), 1-56, 4.
Michael Kemper / Maurus Reinkowski (Hgg.): Rechtspluralismus in der Islamischen Welt. Gewohnheitsrecht zwischen Staat und Gesellschaft (= Studien zur Geschichte und Kultur des islamischen Orients. Neue Folge; Bd. 16), Berlin: De Gruyter 2005, VI + 378 S., ISBN 978-3-11-018455-6, EUR 98,00
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