Als Bereicherung für die Kunstgeschichte darf es bezeichnet werden, wenn, wie im Fall von Gerhard Weilandt, ein promovierter Historiker sein Können in den Dienst kunsthistorischer Forschung und Lehre stellt. Gegenstand des aus der kunsthistorischen Habilitationsschrift hervorgegangenen Buches sind die mittelalterlichen und renaissancezeitlichen Bildwerke der Nürnberger Pfarrkirche Sankt Sebald, bei denen es sich zumeist um Stiftungen der Nürnberger Patrizierfamilien handelt. Bei der Analyse der Kunstwerke geht Weilandt anhand von stifterspezifischen, liturgischen und theologischen Schrift- und Bildquellen den historischen Entstehungsbedingungen, Funktionen und Aussagen der Werke nach, wobei er die von der älteren Forschung erzielten stil- und formgeschichtlichen Ergebnisse mit berücksichtigt. Was dem nachreformatorischen Betrachter als Sammelsurium von Einzelinitiativen erscheinen muss, erweist sich als ein räumlich die Bedeutungshierarchien des Mittelalters abbildendes, im liturgisch-theologischen Sinn wohlgeordnetes Gefüge.
Der Schwierigkeit, ein kontinuierlich dichter werdendes Beziehungsgeflecht zu präsentieren, ist Weilandt mit einem teils chronologischen und teils topografischen Aufbau begegnet. Ein erster Teil folgt dem Bauverlauf von der spätromanischen, 1274 geweihten Basilika über die Erweiterung der Seitenschiffe seit 1309 bis zur Errichtung des Hallenumgangschores 1361-79. Für die baubegleitend ausgeführten Bildprogramme, die wesentlich vom Rat der Stadt, vertreten durch den Kirchenpfleger, bestimmt wurden, kann Weilandt ein einheitliches Konzept nachweisen. Insbesondere zeigt er, dass die Figurenprogramme der vier Portale der Seitenschiffs- und Querhauserweiterung auf die Sakraltopografie im Inneren der Kirche abgestimmt waren. Für die zahlreich angebrachten Schmerzensmannskulpturen relativiert er die kunsthistorische Lehrmeinung, es handle sich bei diesem Bildtyp um ein privates, außerhalb der Liturgie verehrtes Andachtsbild, indem er ihre Funktion als bildlich gefasste Bitte um Barmherzigkeit für die zu ihren Füßen begrabenen Toten darlegt.
Der Hauptteil der Arbeit befasst sich mit der von Weilandt beobachteten "Hierarchie der Räume", die sich als wichtiges Ordnungsprinzip der mittelalterlichen "Topografie der Bilder" erweist. Gemäß dem theologischen Rang der dargestellten Bildthemen kann die Kirche in einen Kernbereich und eine nachgeordnete Hülle unterteilt werden. Der Kernbereich mit den hohen Altarpatrozinien der Herrenfeste, zu denen im Fall von Sankt Sebald auch der freilich erst 1425 heilig gesprochene Kirchen- und Stadtpatron Sebald gehörte, beschränkte sich auf Binnenchor und Langhaus. Am Choreingang verdichteten sich Marienthemen und Apostelaltäre. Das Langhaus, in dem sich keine Altäre befanden, zählte gemäß dem Rang seiner Bildthemen (Apostelzyklus und monumentaler Kruzifixus) zum Kernbereich. Es blieb frei als Versammlungsraum der Gläubigen, die dort stehend oder umhergehend die Predigt hörten. Die Hülle umfasste den Westchor des 14. Jahrhunderts, die Seitenschiffe und den Chorumgang. Dort bildeten sich um die an den Langhauspfeilern, dem Choreingang und im Umgang aufgestellten Altäre "Verehrungszonen". Mit diesem tragfähigen Begriff bezeichnet Weilandt die sich im Laufe der Zeit durch Stiftungen an einen Altar ankristallisierenden Grabstellen, Skulpturen, Epitaphien und Glasmalereien, wobei sich die Bildthemen innerhalb der Verehrungszone auf das "Verehrungszentrum" beziehen. Als Bindeglied zwischen Verehrungszone und Altar ermittelt Weilandt oftmals gar nicht den Altarpatron, sondern dort zusätzlich aufbewahrte Reliquien oder dort gefeierte Jahrtage. Bei den liturgisch nachrangigen Bildepitaphien wurde die Bildwahl etwas freier als bei anderen Stiftungen gehandhabt. Ein weiteres Ordnungsprinzip lässt sich im "Dialog der Bilder" erkennen, bei dem angestrebte symmetrische oder axiale Bezüge zwischen liturgischen Zentren zu einer Parallelisierung von oftmals konkurrierenden Stiftungen geführt haben. Vorschriften, welche Bildthemen wo anzubringen waren, gab es keine, vielmehr scheint es sich um allgemein akzeptierte Vorstellungen gehandelt zu haben. Weilandts theologisch-ikonografische, liturgische und historische Analyse der einzelnen Altäre und ihrer Verehrungszonen wird schon allein wegen des hohen künstlerischen Rangs der meisten Bildwerke über Nürnberg hinaus Beachtung finden.
Die Hierarchie der Räume und das Prinzip der Verehrungszonen waren die beiden wichtigsten Kriterien für die Wahl von Bildthemen. In den Seitenschiffen und im Chorumgang, die für Prozessionen genutzt wurden und deshalb als "Verkehrswege der Kirche" bezeichnet werden, kamen die Bildthemen der Prozessionen hinzu. Speziell in dem der Stadt zugewandten südlichen Seitenschiff bildete sich eine "Ablassbildzone" heraus, die hier durch Weilandt erstmals in einer mittelalterlichen Kirche nachgewiesen wird. Hier häuften sich Ablassbilder und Nothelferdarstellungen für das öffentliche Totengedächtnis der wenig begüterten Bürger.
Am Schluss widmet Weilandt sich den Stiftungen seit etwa 1500 bis zur Einführung der Reformation 1524, an denen er die Emanzipation der Bildthemen von den liturgischen Vorgaben des Ortes feststellt. Als Höhepunkt dieser Entwicklung, die mit einem zunehmend eigenständigen Rang der Kunstwerke einherging, ist die Neufassung des Sebaldusgrabes durch das Bronzegehäuse der Vischer-Werkstatt zu sehen, für dessen bislang ungedeutetes Skulpturenprogramm Weilandt eine literarische Vorlage nachweisen kann.
Ein wesentlicher Teil des Buches ist der 235-seitige Katalog mit ausführlichen Quellennachweisen. Sein Aufbau folgt der Chronologie der Altareinrichtungen, wobei der am Beginn stehende Hochaltar erst seit 1379 allein dem heiligen Sebald geweiht ist. Unmittelbar angegliedert sind jedem Altar die Quellen zu seinem liturgischen Gebrauch, seiner bildlichen und materiellen Ausstattung sowie zu der ihm nach und nach zugestifteten Verehrungszone. Der Katalog ist außer durch Namens-, Sach- und Objektregister des Buches durch ein ausführliches Inhaltsverzeichnis erschlossen.
Als Nebenergebnis liefert die Arbeit neue Ansätze zur Deutung der in Sankt Sebald dank des ersten eingeschossigen Hallenumgangschors einer Pfarrkirche innovativen Architektur. Aufschlussreich ist es beispielsweise, dass die kostspielige Farbverglasung der Fenster als "Leitgattung" von Familienstiftungen zu gelten hat. Dies bietet zusammen mit der Erkenntnis des frei von Altären und Verehrungszonen bleibenden Langhauses eine Erklärung für die Ende des 13. Jahrhunderts einsetzende, auch anderenorts zu beobachtende Aufwertung der Seitenschiffe durch sehr große Maßwerkfenster. Die bisher von der Forschung nicht bewältigte Frage nach der Zugänglichkeit von Binnenchor und Umgang beantwortet Weilandt in dem Sinne, dass beide Bereiche, abgesehen vom Chorgebet des Pfarrklerus im Binnenchor, der Öffentlichkeit frei zugänglich waren.
Mit seiner anhand der Nürnberger Sebalduskirche exemplarisch dargelegten "Topografie der Bilder" hat Weilandt methodisch neue Wege aufgezeigt. Er schärft das Bewusstsein für die Vielfalt der möglichen und dennoch einer Ordnung folgenden Entstehungszusammenhänge vorreformatorischer Bildwerke. Es ist zu hoffen und zu erwarten, dass die äußerst sorgfältig argumentierende, eingängig abgefasste Arbeit weiteren Forschungen als Vorbild dienen wird. Ein besonderes Lob gebührt darüber hinaus Autor und Verleger für die anspruchsvolle Bebilderung, die jeden Argumentationsstrang textbegleitend umfassend dokumentiert.
Gerhard Weilandt: Die Sebalduskirche in Nürnberg. Bild und Gesellschaft im Zeitalter der Gotik und Renaissance (= Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte; 47), Petersberg: Michael Imhof Verlag 2007, 782 S., ISBN 978-3-86568-125-6, EUR 135,00
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