Der neunte Band der vom Deutschen Forum für Kunstgeschichte in Paris herausgegebenen Reihe "Passagen / Passages" legt ausgewählte kommentierte Texte zur Wahrnehmung deutscher Kunst aus französischer Sicht im Zeitraum von 1870 bis 1945 vor. Damit komplettiert das Forum seine dreibändige Auseinandersetzung mit den komplizierten künstlerischen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich im Zeitraum vom Deutsch-Französischen Krieg bis hin zum Ende des Zweiten Weltkriegs: Bereits 2004 erschienen das von Andreas Holleczek und Andrea Meyer vorgelegte Pendant zur deutschen Perspektive auf die französische Kunst (Passagen, Bd. 7) sowie eine auf Kolloquien basierende Aufsatzsammlung zu den von "Distanz und Aneignung" geprägten Kunstbeziehungen (Passagen, Bd. 8). [1] Die den Textausgaben zugrunde liegenden Dokumentationen kunstkritischer Quellen sind derzeit über eine Testversion der Forschungsdatenbank "Deutsch-französische Kunstvermittlung 1871-1940" öffentlich einsehbar. [2]
Seit 1999 schreibt die Reihe der fleißig publizierenden Forschergruppe um die Herausgeber Uwe Fleckner, Martin Schieder und Thomas W. Gaehtgens die kunsthistorische Forschung zum Thema "Deutsch-französische Kunstbeziehungen. Kritik und Vermittlung" im inzwischen bekannten Paperbackdesign fort. Mit dem vorliegenden Band haben die Herausgeberinnen Friederike Kitschen und Julia Drost, unterstützt durch Stipendiaten des Getty Grant Programms und der Andrew W. Mellon Foundation, die schwierige Aufgabe unternommen, die bislang vorliegenden thematisch gegliederten Sammlungen kunstkritischer Quellen durch eine weitere Sinneinheit zu erweitern. Die vorliegende Publikation geht der überaus spannenden Frage nach, was die Franzosen über deutsche Kunst wussten, was sie kannten und nach welchen Kriterien sie dieselbe beurteilten.
Für den Band zur französischen Perspektive wurden 36 französische Kunstkritiken aus unterschiedlichen französischen Publikationsorganen (u.a. Gazette des Beaux-Arts, L'Amour de l'art, Mercure de France und Cahiers d'art) teilweise oder vollständig abgedruckt. Die angestrebte "repräsentative" zeitliche Streuung weist mit 16 Texten einen deutlichen Schwerpunkt in den Jahren 1919 bis 1937 auf. Bis auf eine Ausnahme sind alle Autoren namentlich bekannt; Edmond Duranty, Louis Réau, Camille Mauclair, Christian Zervos und vermutlich auch Waldemar George sind mit jeweils zwei Kritiken vertreten. [3] Wie schon im Pendant (Bd. 7) werden die Quellentexte durch unterschiedliche Schriftarten von den zugehörigen Einleitungstexten und Kommentaren unterschieden. Die Texte sind durchgängig deutsch kommentiert, auf eine französische Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse wurde verzichtet. Illustriert werden die Beiträge durch diverse schwarzweiße Abbildungen sowie einen 16-seitigen farbigen Tafelteil. Die Anmerkungen sind in einem Anhang (393-457) zusammengeführt. Den gezielten Zugang zur Textsammlung erleichtert ein Namensregister.
Im seinem Vorwort bestätigt Gaethgens wie bereits in dem von Bd. 8 (XI) die Annahme, dass sich die Deutschen intensiver mit der französischen Kunst auseinandersetzten, als die sich kulturell überlegen fühlenden Franzosen mit der für sie nicht vorbildhaften deutschen Kunst. Auch wenn sich die französischen Kritiker insgesamt doch stärker für deutsche Werke interessierten als dies bislang angenommen wurde, erfolgte ihr Zugang zur deutschen Kunst fast ausschließlich über Ausstellungen in Frankreich. Berichte über deutsche Werke, die außerhalb Frankreichs zu sehen waren, bildeten die Ausnahme (IX-XII). Diese Kritiken werden in der Textsammlung durch drei Ausstellungsbesprechungen repräsentiert, für die französische Berichterstatter ins Ausland reisten.
Die fundierte Einführung von Pierre Vaisse geht auf die wechselseitigen kulturhistorischen und politischen Probleme der deutsch-französischen Wahrnehmung ein und verweist darüber hinaus auf methodische Probleme (1-8). Für fünf der sechs zusammengefassten Studien zeichnet Kitschen verantwortlich, allein die dritte Studie "Frankreich und die altdeutsche Malerei" (153-206, 417-420) wurde von Isabelle Dubois und François-René Martin vorgelegt. Die Begleittexte sowie die ansprechend formulierten Kommentare zu den Quellen liefern für das Verständnis relevante Informationen zum Ausstellungskontext und auch zum jeweiligen Kunstkritiker; der Leser erfährt Grundlegendes über dessen Kennerschaft und Interessen. Des Weiteren wird das Verhältnis der besprochenen Künstler zu Frankreich erläutert: Herkunft und Ausbildung sowie Parisaufenthalte und Umfeld werden knapp kontextualisiert und umsichtig analysiert.
Titeltreu, aufgrund der thematischen Binnenstruktur aber eher gezwungen, beginnt der Quellenapparat mit einem Text von 1871 und schließt mit einem von 1945. Dass sich die ausgewählten relevanten Quellen dem Ordnungssystem nicht problemlos unterordnen ließen, zeigt bereits die erste Untersuchung "Auf eigenem Boden: Die Wahrnehmung deutscher Gegenwartskunst in Frankreich" (9-88, 393-400), die neben fünf Ausstellungen, die im wörtlichen Sinne auf französischem Boden stattfanden, auch jeweils eine Besprechung der International Exhibition 1871 in London und der Jahrhundertausstellung Deutscher Kunst 1906 in Berlin enthält. Auf einen Text zu dem in den Beiträgen mehrmals angesprochenen "singulären Ereignis" (7, 13, 209, 230), der 1885 in Paris veranstalteten Menzelretrospektive hingegen, haben die Herausgeber zugunsten einer Kritik von Edmond Duranty von 1880 (224-233) verzichtet. Die Berliner Jahrhundertausstellung Deutscher Kunst 1906 wurde von Alexandre Kostka kommentiert, der in Hinblick auf die Auswahl der besprochenen Kunstwerke wie auch anhand der angewandten Argumentation die sezessionistischen Einflüsse herausarbeitet, welche die Besprechung von Louis Réau prägten. Hier, wie auch an anderer Stelle (Kitschen, 215-217) werden die kanonbildenden Kräfte in den Blick genommen. Absichtsvolle Polemik und Kritik scheidet Rachel Esner mit großer Umsicht in ihrem Kommentar zu dem Artikel von René Ménard.
Im zweiten Teil "Befremdlich anders: Das französische Bild der deutschen Kunst" (89-151, 409-412) sowie im dritten Teil "Frankreich und die altdeutsche Malerei" (153-206, 417-420) treten hinsichtlich der behandelten Künstler wie auch der beteiligten Forscher die engen Bezüge zu Passagen, Bd. 6 deutlich hervor. [4] Dubois und Martin verstehen es, komplexe Verbindungen sowie Veränderungen in der Sichtweise französischer Kritiker nachvollziehbar darzustellen und bieten darüber hinaus spannende Einblicke in nationalistische Zuschreibungsstreitigkeiten zwischen französischen und deutschen Autoren.
Im vierten Teil "Die deutschen Meister der Moderne: Eine französische Auswahl" (207-229, 426-431) werden Adolf Menzel, Max Liebermann, Arnold Böcklin, Georges Grosz, Willi Baumeister, Max Beckmann sowie Wassily Kandinsky monografisch behandelt und Martin Schieder macht mit seinem Kommentar zu Abel Bonnards "Hommage à Arno Breker, Paris, 30. Mai 1942" Appetit auf Passagen 12 und 13. [5] Die Entscheidung allerdings, repräsentativ für die französische Wahrnehmung moderner deutscher Bildhauer allein "ein düsteres, historisch jedoch zentrales Kapitel der deutsch-französischen Kunstbeziehungen im 20. Jahrhundert" abzudrucken und zu kommentieren, wirft die Frage auf, ob diese Auswahl nicht mehr noch als der zeitgenössischen Rezeption den Forschungsinteressen der Herausgeber geschuldet ist. Der Leser kann sich angesichts der Quellenverweise nur fragen, ob etwa die monografischen Artikel über Wilhelm Lehmbruck (218, 340) oder Renée Sintenis (274, 340) bereits so bekannt sind, dass sie an nicht genannter anderer Stelle untersucht wurden, oder ob sie zu den nicht repräsentativen "Neufunden" gehören.
Positiv fällt auf, dass im fünften Teil die Ausstellung des Kunsthandwerks mit einer eigenen Sektion gewürdigt wird. Unter dem Titel "Ein umstrittenes Modell: Deutsches Kunstgewerbe in französischen Debatten" (297-343, 441-444) stellen Kitschen (Einleitung und drei Kommentare) und Olivia Tolède (Gabriel Mourey, L'Art décoratif à l'Exposition universelle. Allemagne, 1900) heraus, inwiefern die geäußerte Kritik nicht nur von ästhetischen Werturteilen und nationalem Prestige, sondern auch von ökonomischen Interessen geprägt wurden.
Im sechsten Teil "Strategien der Abgrenzung: Die französische Kritik deutscher Kunstliteratur" (345-353, 448-450) liegt der Schwerpunkt mit vier von fünf Texten auf den Jahren 1915 bis 1945; der älteste Text stammt von 1894. Die zeitliche Streuung wird damit dem eigenen Anspruch, ab 1870 heterogene aber repräsentative Stimmen wiederzugeben (346), nicht gerecht.
Der jüngste Passagen-Band bietet eine solide bearbeitete anregende Auswahl französischer Quellen und deutscher Kommentare, die einen Steinbruch zur weiteren Auseinandersetzung mit den deutsch-französischen Kunstbeziehungen darstellen.
Anmerkungen:
[1] Die vorangegangenen Studien wurden in sehepunkte bereits besprochen. Vgl. Bénédicte Savoy: Rezension von: Andreas Holleczek / Andrea Meyer (Hgg.): Französische Kunst - Deutsche Perspektiven 1870-1945. Quellen und Kommentare zur Kunstkritik, Berlin: Akademie Verlag 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 5 [15.05.2005], URL: http://www.sehepunkte.de/2005/05/7029.html (14.06.2008); Beatrice Joyeux: Rezension von: Alexandre Kostka / Françoise Lucbert (Hgg.): Distanz und Aneignung. Relations artistiques entre la France et l'Allemagne 1870-1945 / Kunstbeziehungen zwischen Deutschland und Frankreich 1870-1945, Berlin: Akademie Verlag 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 2 [15.02.2005], URL: http://www.sehepunkte.de/2005/02/7301.html (14.06.2008).
[2] Während die Publikation für die Jahre 1941-45 zwei Quellen enthält, verzeichnet die Datenbank für den titelgemäß nicht berücksichtigten Zeitraum tatsächlich allein einen Treffer: Abel Bonnards "Hommage à Arno Breker" (287-290). Die Forschungsdatenbank "Deutsch-französische Kunstvermittlung 1871-1940" ist derzeit in einer Testversion öffentlich einsehbar unter der URL: http://proweb.dfkg.org/(gnnd3245hjux53exlcsiwq55)/Index.aspx?L=1&P=1,2 (14.06.2008).
[3] Der einzige "anonyme Beitrag" wird Waldemar George, dem künstlerischen Direktor von Formes zugeschrieben.
[4] Vgl. Wolfgang Drost: Rezension von: Uwe Fleckner / Thomas W. Gaehtgens (eds.): De Grünewald à Menzel. L'image de l'art allemand en France au XIXe siècle, Paris 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 2 [15.02.2004], URL: http://www.sehepunkte.de/2004/02/4735.html (14.06.2008).
[5] Vgl. Andrea Meyer: Rezension von: Martin Schieder: Im Blick des Anderen. Die deutsch-französischen Kunstbeziehungen 1945-1959. Mit einem Vorwort von Werner Spies und einem Gedicht von K. O. Götz, Berlin: Akademie Verlag 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 3, URL: http://www.sehepunkte.de/2006/03/9685.html (24.08.2008).
Friedrike Kitschen / Julia Drost (Hgg.): Deutsche Kunst - Französische Perspektiven 1870-1945. Quellen und Kommentare zur Kunstkritik (= Passagen / Passages. Deutsches Forum für Kunstgeschichte / Centre allemand d'histoire de l'art; Bd. 9), Berlin: Akademie Verlag 2007, XII + 510 S., 16 Farb-, 77 s/w-Abb., ISBN 978-3-05-004108-7, EUR 39,80
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