Warum einem Buch, das sich mit der Geschichte des südlichen Teils der irischen Provinz Munster befasst, den Titel Old World Colony geben? In der irischen Geschichtsschreibung hat sich mittlerweile die Ansicht durchgesetzt, dass das frühneuzeitliche Irland de facto eine englische Kolonie war. Dies wird insbesondere mit Landkonfiskationen, der Ansiedlung von (englischen) Neusiedlern, dem Ausschluss von fairer politischer und wirtschaftlicher Integration in das englische Königreich sowie der Regierung durch eine Minderheit, verbunden mit dem Zwang zur kulturellen Assimilierung, begründet. Auf diese Betrachtung bezieht sich David Dickson und konzentriert sich dabei auf den südlichen Teil der Insel. Dafür liefert er zwei Gründe: Zum einen sieht er in den Ereignissen in der an County Cork angrenzenden Region ein Musterbeispiel für Ereignisse und Entwicklungen, die auch für das restliche Irland gelten; zum anderen geht es ihm darum, die besonderen Faktoren und Triebkräfte für Veränderungen herauszuarbeiten, die der Region im Lauf der Zeit ihren Stempel aufdrückten.
Als Untersuchungszeitraum setzt Dickson die zwei Jahrhunderte von 1630 bis 1830 an. Mag das Enddatum einleuchten (Katholikenemanzipation 1829/30), so überrascht auf den ersten Blick das Anfangsdatum. Auf den zweiten Blick wird dem Leser jedoch klar, weshalb Dickson diese Zäsur setzt: Im Jahr 1630 schlossen England und Spanien Frieden. Der Friedensschluss wiederum reduzierte die geostrategische Relevanz, die Irland als offene Flanke Englands bis dahin für das englische Königreich hatte. Dies eröffnete bei gleichzeitigem (jedoch nur kurz andauerndem) Abbau von Handelsrestriktionen die Möglichkeit zur Teilhabe am transatlantischen Handelsgeschehen. In den Jahren nach 1630 erlebte Süd-Munster eine kurze, goldene Ära.
Gleichzeitig setzt Dickson die Zäsur 1630 nicht absolut. Er macht deutlich, dass frühere Ereignisse ihre Schatten voraus warfen, wie beispielsweise Desmonds Rebellion in den frühen 1570er Jahren, die Munster-Revolte von 1598, die Landung spanischer Truppen und die Schlacht von Kinsale 1601. Sie zeichneten ein Konfliktpotential vor, das sich mit dem Ausbruch des englischen Bürgerkriegs brutal entlud. Dickson bezieht sich in der Wahl des Buchtitels auf diese Ereignisse, indem er festhält, dass alle Konflikte und Rebellionen vor und nach 1630 mit der Konfiszierung von Land und der Ansiedlung neuenglischer Siedler zu tun hatten und dass diese Ereignisse "demonstrativ koloniale Charakteristika" aufweisen (XIII).
Das Buch ist in drei Teile gegliedert: Im ersten Teil (Crescent, Kapitel 1-7), der den Zeitraum von 1630 bis 1770 umfasst, bilden die Ereignisse rund um den Krieg Oliver Cromwells sowie die Ära der Strafgesetze gegen die Katholiken den Rahmen für eine Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte Irlands. In diesen Kapiteln erzählt Dickson von der Umwälzung und der Neugestaltung der Landbesitz- und Pachtverhältnisse und von den Veränderungen, die sich aus Handel und Kommerz für Stadt und Land in den folgenden Jahrzehnten in Irland ergaben.
Im zweiten Teil, dem Dickson den Titel 'Intermezzo' gibt, zeichnet der Autor das Bild einer Gesellschaft der Mitte des 18. Jahrhunderts, die weitgehend von größeren Unruhen und innergesellschaftlichen Veränderungen verschont blieb. Gleichzeitig zeigt Dickson, dass die Ruhe nicht bedeutete, dass die Iren sich im Ancien Regime wieder gefunden hätten. Denn trotz der relativen Ruhe kam es zu vereinzelten Unruhen, wenngleich diese keine ähnliche Sprengkraft hatten wie jene des 17. oder des ausgehenden 18. Jahrhunderts.
Die Zuspitzung der Ereignisse ist Gegenstand von Teil drei (Reckoning, Kapitel 8-13), in dem die Jahre von 1770 bis 1830 abgehandelt werden. Es ist eine Epoche, die von Modernisierung und dabei insbesondere von strukturellen Veränderungen in der Landwirtschaft gekennzeichnet ist. Die Strafgesetze wurden allmählich kassiert, und grundlegende gesellschaftliche Brüche traten auf. Letztere etwa sind in der Ablösung des traditionell engen Landlord-Pächter-Verhältnisses zu sehen und dessen Ablösung durch eine Beziehung, die sich entlang politisch-konfessioneller Linien entwickelte (Kapitel 8-9). Weitere Themen sind Handel und Industrie (Kapitel 10) sowie Urbanisierung und Neugestaltung der Infrastruktur (Kapitel 11). Äußere Kennzeichen dieses Bruches sind zumeist ökonomisch bedingte Bauernaufstände und politische Unruhen, die 1798 in einer landesweiten Rebellion kulminierten (Kapitel 12), sowie die konfessionell-politische Einreihung der Katholiken hinter die Fahnen des 'Liberators' Daniel O'Connell in den 1820er Jahren (Kapitel 13). Dickson gibt in dieser Darstellung beiden Seiten Raum: den Gewinnern von Meliorationen, Einhegungen und handelsorientierter Landwirtschaft ebenso wie der überwiegenden Mehrheit der Haushalte, die meisten davon katholisch, die außerhalb der marktorientierten Wirtschaftsweise ihr Dasein fristeten.
Old World Colony ist ein Brückenschlag zwischen der alten und der neuen Welt, die die Erfahrung kolonialer Fremdherrschaft teilen. [1] Der Bezug zu den Kolonien jenseits des Atlantiks äußerte sich freilich auch auf andere Weise. Trotz der Navigationsakte, die auch Irland betraf, fand Irland gegen Ende des 17. Jahrhunderts im Export von Butter, eingesalzenem Rindfleisch und Wollgarn Handelsnischen, die es nutzte. Irlands Süden - hier spielt der Wirtschaftshistoriker Dickson sein ganzes Wissen aus - prägte dieser Handel, was sich etwa in der Ausrichtung der Landwirtschaft auf Viehwirtschaft und in dem Anstieg der Preise zeigt. Wie sich dabei Pachtverhältnisse und Beziehungen zwischen Alteingesessenen und Neusiedlern veränderten und gestalteten, wird ausführlich geschildert. Viel Raum wird auch dem Ausbau der Hafenstadt Cork gewährt.
Nach 1770 stand Südirland unter dem Einfluss der Revolutionen, die sich dies- und jenseits des Atlantiks ereigneten. 1793 bereits gründeten die United Irishmen in Cork einen Club. Anders als ihre Dubliner Brüder verbanden die United Irishmen Corks politische Anliegen mit Forderungen der bäuerlichen Schichten und verteilten unter ihnen Flugblätter. Munster war nicht zuletzt auch deswegen 1798 ein Zentrum des an Rebellionen nicht armen Irland, obwohl das Militär dort durch hartes Durchgreifen größeren Aufruhr verhinderte. Dickson arbeitet heraus, wie sich in Südirland das Empfinden für die Enteignungen des 17. Jahrhunderts im kollektiven Bewusstsein erhielt und die Partizipation 1798 keineswegs auf die anglophone Schicht Dublins und Corks beschränkt war (472).
Dickson wendet sich mit diesem Buch an ein Fachpublikum, das umfassend über die südirische Neuzeit informiert werden möchte. Er verknüpft auf großartige Weise Wirtschafts-, Sozial- und politische Ereignisgeschichte. Der Autor kann dabei auf einen Materialfundus aus mehr als 30 Jahren eigener intensiver Forschungsarbeit zurückgreifen [2]; das Literaturverzeichnis mit seinem Umfang von 40 Seiten sowie die rund 110 Illustrationen, 8 Karten und 10 Tabellen zeugen davon. Ein ausführliches Inhaltsverzeichnis vereinfacht den schnellen Zugriff auf einzelne Themen. Etwa 140 Seiten Fußnoten und ein zwanzigseitiger Appendix ermöglichen ausführliches Stöbern. Etwas schade ist - wenngleich wohl der Verlagspolitik geschuldet -, dass die Fußnoten nicht auf den Textseiten zu finden sind, so dass man viel blättern muss. Das schmälert jedoch in keiner Weise den Gewinn, den der Leser aus diesem Buch ziehen wird.
Anmerkungen:
[1] Unerwähnt bleibt hier: Nicholas Canny: Kingdom and Colony. Ireland in the Atlantic World, London 1988.
[2] David Dickson: An economic history of the Cork region in the eighteenth century, Dublin 1977 (Dissertation).
David Dickson: Old World Colony. Cork and South Munster 1630 - 1830, Madison, WI: University of Wisconsin Press 2005, XVII + 726 S., ISBN 978-0-299-21180-6, USD 65,00
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