Das vorliegende Sammelwerk ist hervorgegangen aus den Beiträgen der Jahrestagung der Internationalen Gesellschaft für Geschichtsdidaktik, die 2003 durchgeführt wurde. Es geht in über 20 Beiträgen aus mehr als 12 Nationen um nicht weniger als "die zunehmende Bedeutung methodischer Kompetenzen" sowie die "Unterschiede und Gemeinsamkeiten, aber auch Probleme" des Geschichtsunterrichtes während des "Kleinerwerdens der Welt." (9) Die Beiträge eines Sammelbandes sind, je nach Interessenlage des Lesers, einschlägig, relevant oder nützlich. Sie wecken Interesse aufgrund der nationalen Thematik oder wegen herausragender Aspekte des Geschichtsunterrichtes, die zum Vergleich mit den eigenen Konzepten und Erfahrungen locken.
Da es sich um Bestandsaufnahmen und Kritik von Geschichtsunterricht aus der Eigen- oder Fremdperspektive handelt, darf man gespannt sein, inwiefern sich in den Methoden und dem Anspruch Verbindendes oder Gegensätzliches finden lässt. Immerhin bilanzieren Autoren, deren Staaten nicht immer in einem partnerschaftlichen Verhältnis standen. Allein von dieser Warte aus gesehen ist es hilfreich zu erfahren, wie man Nationalgeschichte sieht und lehrt bzw. lehren sollte. Niemand wird leichtfertig konzedieren, dass das Geschichtsbild seiner Nation einseitig oder zu wenig objektiv ist. Erfreulich, dass die Autoren sich in einem Kommuniqué auf grundlegende Gemeinsamkeiten und Standards einigen konnten (379).
In fast jedem Staat hat der Geschichtsunterricht einen Paradigmenwechsels durchlebt. Dies wird evident bei der Nennung der Jahresdaten, die von den Autoren als einschneidend für die Geschichtsdidaktik ihres Landes gesehen werden: 1945, die frühen 1950er Jahre, 1968 und die 1970er sowie die späten 1980er Jahre. Bei der nationalen Lehrplanarbeit ging es häufig darum den ehemals staatstragenden Geschichtsunterricht von der ideologischen Bevormundung oder nationalgeschichtlich getönten Brille zu befreien und ihn in einen postdiktatorischen, ideologiekritischen Unterricht zu überführen. Die Beiträge zeigen, dass die Erlernung der Demokratie im Geschichtsunterricht in den meisten Nationen eine große Rolle spielt(e): Deutschland, Italien (nach 1945), Marokko (1960er Jahre), Polen, Slowakei, Ungarn, UdSSR (nach 1989). Aber auch die traditionell demokratisch verfassten Staaten hatten ihre Reform- und Wendezeiten. Tendenziell sind sich die Autoren einig, dass moderner Geschichtsunterricht großen Wert auf die Methoden der kritischen Quellenanalyse legen muss. Die Erkenntnis, dass Themen und Probleme der Sozialgeschichte, Handlungsorientierung und Materialvielfalt die Eingängigkeit von Geschichtsunterricht fördern, gehört ebenfalls zu den Leitmotiven der Beiträge.
Entstanden ist ein "Arbeitsbuch". Man kann darin nationale Besonderheiten (zum Beispiel: Frankreich, Finnland und die postkommunistischen Staaten) aufspüren oder nach Anregungen für modernen Geschichtsunterricht suchen. Zentrale Aspekte wie Geschichtsbewusstsein (Nemchinov, Russland, Popp), Quellenarbeit (Erdmann), Projektarbeit (Messmer, Schweiz), Kompetenzen (Kratochvíl, Slowakei), Postideologie (Nemchinov, Centkowski, Polen), außerschulische Lernorte (Nemchinov) und Grundschulunterricht (Kratochvíl, Messmer, Schweiz) finden Niederschlag. Allenfalls schlaglichtartig können Einzelaspekte des zweifelsfrei gelungenen und verdienstvollen Werkes besprochen werden.
Anregend ist der Beitrag von Kratochvíl, der zahlreiche "Erlebnis-Erkenntnis-Übungen", die in der Erfahrungswelt der Schülerinnen und Schüler verankert sind, demonstriert (174). Bei der Beschreibung der Lehrplanentwicklung in Italien (Brusa/Cajani) fällt neben strukturellen Aspekten auch die Abwendung von den ehemals faschistischen Lehrplänen seit 1945 ins Gewicht: Sogenannte "neue Helden", die für die Freiheit kämpften, zählen zu den aktuellen Vorbildern im Geschichtsunterricht, der teilweise mit Erdkunde oder bis 1955 sogar mit den Naturwissenschaften kombiniert war. Bemerkenswert sind die Reflexionen über die Verschränkung von Lehrplandiskussion und jeweiliger Regierung (49-50). Erfreuliche Resultate der Entwicklungen sind: Die globale Sichtweise der Geschichte (43) und "der Umstand, dass dabei geschichtsdidaktische Lehre institutionalisiert worden" ist (50). Anregend und interessant muss der Geschichtsunterricht in Schottland sein, dem Dargie nach eingehender Kritik bescheinigt, dass er "in good health in the middle and upper stages oof secondary education" (68) sei, da die größte Zahl der Schülerinnen und Schüler das Fach Geschichte freiwillig wählen. Das Prinzip und der Wahlmodus der sogenannten "Guidelines" lassen Fachinhalte etwas in den Hintergrund treten, geht es doch der Schule mehr um "developing skills and attitudes in learners." (61)
Die Herausgeberin Erdmann verdeutlicht, wie unterschiedlich die Lehrpläne in Deutschland aussehen. Sie nutzt die Lehrpläne von drei Bundesländern um das Essenzielle guten Geschichtsunterrichtes herauszuarbeiten, den sie als ihre "Vision" (80) bezeichnet. Konstruktiv sind ihre Vorschläge, wie man Medien im Unterricht einsetzen sollte. Sie relativiert die hohen Ansprüche der Lehrplanvielfalt in Deutschland und stellt methodische Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern in den Vordergrund. Hasberg gibt nicht nur Einblick in die Lehrpläne von Großbritannien, der Schweiz (Kanton Aargau) und Deutschland (Nordrhein-Westfalen), sondern vergleicht Vor- und Nachteile derselben um ein Plädoyer für standardorientierten Geschichtsunterricht und empirische Unterrichtsforschung zu formulieren. Während ihm der britische Ansatz im Grundsatz gefällt, fehlen ihm Anwendungsbezug und die Binnendifferenzierung (121/122). Der differenzierte Schweizer Lehrplan vermag ihn nicht zu überzeugen (134/124).
Dass auch Pisa-Gewinner mit Wasser kochen, bestätigt der Artikel zur Situation in Finnland (Virta). In den 1970er Jahren fanden dort grundlegende Reformen statt. Erst ab Klasse 7 wird der Unterricht von Fachlehrern unterrichtet, allerdings zählt Geschichte zu den Pflichtfächern der Sekundärschule. Unterschieden wird auch hier zwischen Kompetenzen und Inhalten. Die Grundorientierung des Geschichtsunterrichtes in Finnland ist "investigative-oriented." (234)
Einblicke in den Geschichtsunterricht und das Geschichtsbewusstsein Polens bietet der Beitrag von Centkowski. Ein Meilenstein auf dem Weg zur aktuellen Geschichtsdidaktik war die Beteiligung an der Arbeit der Internationalen Gesellschaft für Geschichtsdidaktik seit den 1970er Jahren. Eckpunkte der Erneuerung waren die Gewerkschaft Solidarnošč und die Reformen von 1990, die zu den aktuellen Lehrplänen führten. Aufschlussreich sind Hinweise auf die "Didaktische Kommission", die denjenigen Lehrern half, die wegen ihrer oppositionellen Einstellung "verfolgt wurden." (56) Geschichte wird in Polen heute mit Sozialkunde als Geschichte und Gesellschaft unterrichtet, wobei "jedoch der Sozialkunde mehr Gewicht verliehen" wird (58).
Ergänzt wird dieser Beitrag durch Zielinskis Ausführungen über das Schulsystem sowie die quantitative und qualitative Situation des Geschichtsunterrichtes in Polen. Kritik wird an der letzten, ausführlich beschriebenen Reform geübt, die im "didaktisch methodischen Bereich (Festlegung der Bildungsziele mit Akzentsetzung auf Können bzw. Kompetenzen) [...] und andererseits im schulorganisatorischen Bereich" als Strukturreform durchgeführt wurde (359-60). Bemerkenswert sind die Lehrinhalte, die sich mit der polnischen Nationalgeschichte auseinandersetzen. Enttäuscht konstatiert der Autor das "Sinken des Interesses am Fach Geschichte" und den niedrigen Wissenstand der polnischen Absolventen beider Schultypen (372). Als Ursachen sieht er die verminderte Geschichtsstundenzahl und die Fülle des Stoffes.
Der vorliegende Sammelband hat das Zeug zum Handbuch und ist damit sicherlich kein Buch, das zum Durchlesen von A bis Z geeignet ist. Besonders informativ ist der Band im Hinblick auf die Herausbildung von Geschichtsbewusstsein bei den Schülerinnen und Schülern in den vorgestellten Ländern. Der Gewinn eines solchen Arbeitsbuches liegt in seinem Informationsgehalt, der gezielte Recherchen zu nationalen Besonderheiten des Geschichtsunterrichtes und Vergleiche ermöglicht. Evident wird dabei die Bedeutung des Geschichtsunterrichtes für Schulreformen und das nationale Verständnis von Kultur. Angesichts der vielen Modelle fällt es allerdings schwer zu entscheiden, wer von wem lernen kann bzw. wie der Königsweg zu optimaler historischer Bildung aussieht: Zu unterschiedliche Modelle hinsichtlich der Struktur und der Inhalte von Geschichtsunterricht sowie divergierende Vorstellungen von Dauer und Fächerkombinationen scheinen (noch) die Sicht auf ein gemeinsames Vorgehen zu verstellen. Einigkeit herrscht beim Herausheben der Bedeutung von Quellenorientierung sowie Text- und Kulturkritik. Nationale Besonderheiten ("kulturelles Erbgut", "neue Helden") werden durchaus unterschiedlich gewichtet.
Die Stärke und Schwäche des Bandes liegt in der Vielfältigkeit und Mehrsprachigkeit, die prinzipiell zu begrüßen sind. Den Herausgebern ist Dank zu schulden für ein Werk, das helfen kann bei vergleichender Schul(buch)analyse oder bei der Erarbeitung und dem Vergleich von (internationalen) Standards für das Fach Geschichte. Der globale Blick auf die Schulsysteme und den Geschichtsunterricht ist hilfreich bei der Reflexion und Reform des eigenen Bildungssystems und Geschichtsunterrichtes. Darüber hinaus finden Geschichtslehrer, die z.B. am Aufbau eines internationalen Schüleraustausches interessiert sind, grundlegende Informationen über den Stellenwert, die Qualität und die Herausbildung des jeweiligen Geschichtsbewusstseins potenzieller Partnerländer und -schulen.
Elisabeth Erdmann / Robert Maier / Susanne Popp (Hgg.): Geschichtsunterricht international. Worldwide Teaching of History (= Studien zur internationalen Schulbuchforschung; Bd. 117), Hannover: Georg-Eckert-Institut für Internationale Schulbuchforschung 2006, 380 S., ISBN 978-3-88304-317-3, EUR 22,00
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