Während die antike Philosophie meist einseitig aus Werken der Eliten konstruiert wird, fallen Aussagen über die ethischen Ansichten der Gesamtbevölkerung weniger leicht. In dem hier anzuzeigenden Buch versucht Teresa Morgan, weit verbreitete Moralvorstellungen des ersten nachchristlichen Jahrhunderts quer durch alle sozialen (heidnischen) Gruppierungen im Römischen Reich anhand literarischer Quellen herauszuarbeiten. Ganz dezidiert setzt sie ihre gewonnenen Erkenntnisse von einer rein auf die Philosophie der Eliten gestützten Ethik ab. Bereits in ihrer Einleitung (1-22) weist die Autorin auf die vielen Probleme und Einschränkungen ihres Vorhabens hin - wie den Grad der Alphabetisierung und die schwierige Quellenlage für die Untersuchung der unteren Schichten -, die den Leser ihre Thesen mit einer gewissen Vorsicht aufnehmen lassen. Sie stützt sich auf Ergebnisse ihrer früheren Arbeit, die sich mit Papyrustexten als Belege der schulischen Erziehung in Ägypten beschäftigt. [1]
Morgan gruppiert ihren Untersuchungsgegenstand in der ersten der drei Sektionen des Buchs in vier Großkategorien (Kapitel 2-5, 23-159), die sie mittels moderner Definitionen und gelegentlicher interkultureller Vergleiche analysiert: Sprichwörter (ihre Hauptquellen sind Zenobius, Pseudo-Diogenianus und Pseudo-Plutarch), Fabeln (Babrius, Phaedrus), Gnomai (Publilius Syrus) und Exempla (Valerius Maximus, Plutarch). [2] Die Unterkapitel sind thematisch gegliedert und enthalten unzählige Zitate, die - sicher aus platztechnischen Gründen - nur in Übersetzung und leider zu oft ohne Kommentierung angeführt werden. Einzig für Kernbegriffe verwendet sie das lateinische Original und die Transliteration griechischer Ausdrücke. Am Ende eines jeden Kapitels zieht sie ein kurzes Fazit, das durch eine Graphik der prozentualen Verteilung der Zitate auf die von ihr gewählten Subkategorien gestützt wird.
Bei der Fülle der Beobachtungen ist es schwer, alle adäquat zu belegen, doch wird der interessierte Leser sich an einigen Stellen fragen, wieso die geäußerten Behauptungen nicht zumindest durch Fußnoten gestützt oder ausgeführt werden. So wird ein Unterschied zwischen tyche und moira postuliert, doch der kurze Absatz illustriert diesen kaum (113; vgl. hingegen 304f.). An anderer Stelle zitiert sie eine bemerkenswerte Stelle aus Valerius Maximus (3.3 ext.7), in der er davon spricht, dass virtus über Statusgrenzen hinweg erlangt werden kann. Leider kommentiert sie dieses auffällige Konzept nicht weiter (137f.). Wenn sie die von Valerius angesprochene Option des Freitods als Beleg für die ethischen Handlungsmöglichkeiten der Menschen anführt (135), wäre ein Hinweis auf Timothy Hills neue Monographie über die moralischen Vorstellungen der römischen Elite zu diesem Thema hilfreich, um dem Leser die andersartige Betrachtungsweise der Römer verständlicher zu machen. [3]
Ein wichtiger, problematischer Aspekt, der immer wieder angesprochen, aber nicht vertieft wird (beispielsweise 154), ist der Unterschied zwischen römischen und griechischen Wertevorstellungen. Hier spricht Morgan zwar von regionalen Unterschieden, sieht aber genug Gemeinsames, um von einer einheitlichen ethischen Landschaft des Römischen Reiches sprechen zu können. Kaum thematisiert wird hingegen die chronologische Entwicklung dieser Landschaft: Worin liegt die Eigenart der frühen Kaiserzeit, außer dass wir für sie eine gute Quellenlage besitzen? Ohne den Vergleich mit anderen Epochen der Antike ist schwer zu erkennen, was sich neu- und weiterentwickelt oder aufgegeben wird.
Im sechsten, zentralen Kapitel (160-190) führt Morgan die bisherigen Ergebnisse zusammen. In ihren Augen zeigt sich in der Skepsis und dem Schweigen der Quellen über Institutionen, dass die römische Welt ein Stadium erreicht habe, in dem diesen Institutionen, die Werte sichern sollen, nicht genug Vertrauen entgegen gebracht wurde (171). Die Tatsache, dass sich in den Gnomai und Exempla, die sie eher der Oberschicht zuordnet, ein größeres Vertrauen in den Staat manifestiere, sei ein weiterer Beleg ihrer These (175).
Die zweite Sektion befasst sich mit den wichtigsten Wortfeldern der Quellen (191-206) sowie den vielen angeführten moralischen Autoritäten und ihren Interdependenzen (207-234). In letzterem Kapitel werden, vor allem anhand von Valerius Maximus, griechische und römische Differenzen in der Gewichtung von Autoritäten angemerkt. Hier findet sich auch die einzige Graphik, die aufschlüsselt, welchen Epochen die Beispiele aus Valerius Maximus und den Sprichwortsammlungen angehören. Morgan schließt diesen Abschnitt mit Überlegungen zur Rolle der Zeit (235-256): "Human life is less a voyage of discovery than a progression from one part to another in a complex dance" (252). Dieses Bild verwendet sie mehrfach, und es trifft auch für ihre Beobachtungen zur fragmentierten Vorstellung des Ichs in den Weisheiten zu (206): Gut zu sein bedeute, je nach Situation angemessen zu handeln, und nicht einer Handlungsmaxime immer streng zu folgen.
In der letzten Sektion gelingt es der Autorin, die Ergebnisse für andere Kontexte fruchtbar zu machen. Zunächst spricht sich Morgan nach Durchsicht antiker Zeugnisse und einem Vergleich mit modernen Zugängen dafür aus, dass Spruchsammlungen in der Antike in der Fortsetzung der oralen Tradition von Anfang bis Ende gelesen wurden (257-273). Der Leser bediene sich der Weisheiten, die er für relevant halte.
Kapitel elf beschäftigt sich mit dem Verhältnis zwischen höherer Philosophie und volkstümlicher Ethik (274-299). Die Autorin sieht ein komplexes Zusammenspiel, in dem Ideen sowohl von oben nach unten, wie meist angenommen, als auch von unten nach oben wandern.
Zuletzt zeigt Morgan, dass andere Quellengattungen wie die Epigraphik ebenfalls von den herausgearbeiteten Moralvorstellungen durchzogen, aber weniger reich an Material seien, als man erwarte (300-325). Die Nähe dieser aus dem Umfeld der Eliten stammenden Zeugnisse zu den Werten eines Valerius Maximus bestätigt die zuvor in Kapitel fünf identifizierten Merkmale einer eher elitären Ethik dieses Autors.
Das Buch schließt mit drei Appendices (Babrius, Begriff der "Sammlung", Unterschiede zwischen Populärmoral und philosophischen Lehrmeinungen), einer Liste der zitierten Papyri sowie einer umfassenden Bibliographie von 32 Seiten und einem kurzen Index.
Morgan gelingt es, unter anderem durch Rückgriffe auf moderne anthropologische und philosophische Studien, einige interessante Unterschiede zwischen den ethischen Vorstellungen der Elite und der breiteren Masse herauszufiltern. Diese Erkenntnisse erweisen sich als fruchtbar für weitere Vergleiche mit anderen Quellengattungen. Wünschenswert wäre eine genauere Binnendifferenzierung sowohl zeitlicher als auch kultureller Besonderheiten. Dies lässt Raum für weitere Arbeiten, was aber nicht von dem Verdienst dieser quellengesättigten Studie ablenken soll.
Anmerkungen:
[1] Teresa Morgan: Literate Education in the Hellenistic and Roman Worlds, Cambridge 1998. Vgl. die Einwände in der Rezension von Raffaella Cribiore, in: Bryn Mawr Classical Review 1999.05.22 (http://ccat.sas.upenn.edu/bmcr/1999/1999-05-22.html).
[2] Vergleiche mit anderen Kulturen fallen allerdings kurz aus und sind oft auf Fußnoten beschränkt (beispielsweise 164 Anm. 9).
[3] Timothy Hill: Ambitiosa mors: Suicide and Self in Roman Thought and Literature (Studies in classics 10), New York [u. a.] 2004.
Teresa Morgan: Popular Morality in the Early Roman Empire, Cambridge: Cambridge University Press 2007, xiv + 380 S., ISBN 978-0-521-87553-0, GBP 55,00
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