Mary Elisabeth Anderson widmet sich in ihrer Studie dem letzten großen Vertreter der schwedischen Lutherrenaissance, Gustaf Wingren (1910-2000). Der Begriff "Lutherrenaissance" kennzeichnet als Sammelbegriff eine der Hauptrichtungen der deutschen und schwedischen Theologiegeschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts; als theologiegeschichtliches Paradigma hat die "Lutherrenaissance" nachhaltigen Einfluss auf die protestantische Theologie des 20. Jahrhunderts, insbesondere die Systematische Theologie und Kirchengeschichte, ausgeübt. Hauptvertreter der Lutherrenaissance in Deutschland waren z.B. Karl Holl, Erich Seeberg und Rudolf Hermann oder in Schweden Einar Billing, Gustaf Aulén und Anders Nygren. Konstituierende Merkmale der Lutherrenaissance sind die Betonung von Luthers Rechtfertigungserlebnis, die produktive und z.T. kritische Auseinandersetzung mit theologiegeschichtlichen Modellen und geistigen Strömungen des 19. Jahrhunderts wie z.B. der historisch-kritischen Forschung, dem deutschem Idealismus und der Religionskritik sowie die Tendenz, Luthers Theologie absolut zu setzen.
Publikationen in den großen Wissenschaftssprachen zur schwedischen Kirchengeschichte und Theologie erfordern sprachliche Mehrfachkompetenz und sind wohl allein aus diesem Grund relativ selten. Insofern stellt dieses Buch einen wichtigen Beitrag dar, der zur Kenntnis der schwedischen Theologie des 20. Jahrhunderts beisteuert.
Einleitend kommentiert Anderson die theologischen Prägungen, die auf die Entstehung der schwedischen Lutherrenaissance um und nach dem Jahr 1900 wirkten, namentlich die lutherisch-orthodoxe Theologie und die Liberaltheologie. In diesem Zusammenhang rekurriert die Verfasserin auf die frühesten Vertreter der schwedischen Lutherforschung, den späteren Erzbischof Nathan Söderblom und seinen Kollegen Einar Billing, für die die historisch-kritische Forschung in Form von Julius Wellhausens Prolegomena das epochale Ereignis ausmachte: Wellhausens Buch wirke auf Söderblom und Billing zunächst verunsichernd; insgesamt war es mithin der Anstoß zu einer tiefen wissenschaftlichen Beschäftigung, die in Luther und seiner Theologie den wichtigsten Fixpunkt besaß.
Während die erste Generation der zur schwedischen Lutherrenaissance gehörenden Theologen noch insbesondere theologische Entwicklungen des 19. Jahrhunderts vor Augen hatte, bauten die Lundenser Theologen Gustaf Aulén und Anders Nygren sowie der von Anderson nur knapp abgehandelte Harald Olsson den Höhepunkt der Beschäftigung mit Luthers Werk. Aulén wählte für seine systematisch theologischen Werke einen strikt historischen Zugang; Nygren entwickelte durch das Konzept der so genannten Motivforschung eine selbstständige wissenschaftstheoretische Herangehensweise, die für zahlreiche schwedische Theologen nach ihm stilbildend wurde.
Im zweiten Hauptteil ihrer Studie präsentiert Anderson Gustaf Wingren, zunächst anhand seiner Biographie und von Selbstzeugnissen, mit Hilfe derer sie z.B. Wingrens Interesse für Schöpfungstheologie bereits in seiner Jugendzeit verorten kann. Dies stellt insofern ein wichtiges Detail in Wingrens Biographie dar, als Wingren sich insbesondere durch die Betonung der Schöpfung von seinen Vorgängern Aulén und Nygren distanzierte.
In den abschließenden Kapiteln gibt die Autorin einen Abriss über Wingrens international bekanntestes Werk, Luthers Lehre vom Beruf, und diskutiert die Frage, inwieweit Wingrens Lutherauslegung "irreführend oder glaubwürdig" (143 ff.) sei. Anhand von ausgewählten Luthertexten kommt sie zu folgendem Schluss: "[...] Wingren presented both a faithful and a misleading description of Luther's views" (143).
Allerdings wirft Andersons Werk eine ganze Reihe von Fragen auf: Prinzipiell ist es wohl recht unproblematisch, dass Anderson sich strukturell an Hjalmar Lindroths Studie "Lutherrenässansen i nyare svensk teologi" von 1944 oder an die Publikationen von Carl Axel Aurelius orientiert; da sie aber insbedondere im ersten Teil ihrer Arbeit oft ungeprüft Lindroths Wertungen übernimmt, indem sie z.B. behauptet, dass Auléns und Nygrens Zugang zu Luther im Unterschied zur älteren schwedischen Theologie, insbesondere der Orthodoxie, streng wissenschaftlich und objektiv sowie nicht idealistisch geprägt war, redet sie ebenso unkritisch der Lutherrenaissance das Wort wie Lindroth dies tat. Lindroth als Vertreter der schwedischen Lutherrenaissance war nur allzu deutlich darum bemüht, andere wissenschaftliche Konzepte als das eigene zu diskreditieren. Wenig geglückt ist auch die schubladenartige Unterteilung der theologischen Lager in "Orthodoxie" und "Liberaltheologie", zumal jegliche Hinweise auf die Bedeutung von Erweckung, Pietismus und freikirchliche Entwicklungen für die schwedische Theologie im 19. und 20. Jahrhundert fehlen.
Wie wenig die Begrifflichkeiten geklärt sind, mag folgendes Beispiel belegen: Anderson sieht Billings Theologie u.a. als eine Abwehr einer melanchthonisch geprägten Orthodoxie. Ihr zu Folge ist ein zentraler Inhalt dieser Theologie Billings, dass die Sünder "might once again cooperate with God in their callings" (S. 41). Dass dieses "cooperari" jedoch gerade für die Theologie des Praeceptor Germaniae typisch ist und auch von der schwedischen Orthodoxie - etwa dem schwedischen Erzbischof Laurentius Paulinus Gothus (gestorben 1646) - gelehrt wurde, entgeht Anderson. Die Frage welche Bedeutung Melanchthon in der schwedischen Orthodoxie und der Lutherrenaissance des 20. Jahrhunderts besaß, wird durch diese Ausführungen nicht unbedingt erhellt.
Insgesamt fehlt diesem Werk eine griffigere und ggf. auch ausführlichere Kontextualisierung. Die kirchenhistorischen Entwicklungslinien und theologischen Positionierungen um die es in Andersons Studie geht, sind weitaus komplizierter als sie es darstellt. Der Konnex der schwedischen Lutherrenaissance zu entsprechenden Entwicklungen in Deutschland bleibt viel zu knapp; Referenzen zu Heinrich Assels Buch über die Lutherrenaissance [1], das auf vielschichtige Interaktionen zwischen der schwedischen und der deutschen Lutherrenaissance verweist, fehlen z.B. völlig in Andersons Ausführungen. Ein weiterer kirchenhistorischer und theologischer Hintergrund sowie Ausführungen zur schwedischen Geschichte seit 1800 könnte zur Einordnung der schwedischen Lutherforschung in den geistigen und politischen Horizont Schwedens und folglich zum Verständnis von Andersons gesamter Untersuchung beitragen.
Das vorliegende Werk vermittelt ein viel zu holzschnittartiges und schemenhaftes, dialektisches Bild der schwedischen Lutherrenaissance und ihres letzten großen Vertreters Gustaf Wingren: Wingrens Bedeutung für die Theologie des 20. Jahrhunderts im Allgemeinen und für die schwedische Kirche seit 1950 im Besonderen, geht über die einfache Frage des "misleading or faithful" weit hinaus. Viel interessanter als diese Frage - deren Beantwortung nicht zuletzt von dem nicht geklärten Vorverständnis der Fragestellerin abhängt - wäre z.B. Wingrens scharfe Kritik an Barth, Bultmann und Nygren gewesen oder seine stilbildende Funktion für die schwedische Theologie und Kirchlichkeit am Ende des 20. Jahrhunderts.
Mehr als ein erster Einstieg in die schwedische Lutherrenaissance und das Werk Gustav Wingrens kann das vorliegende Buch nicht sein. Als solcher können aber auch die oftmals fachlich sichereren und z.T. auch ausführlicheren TRE-Artikel zu den verschiedenen Vertretern der schwedischen Lutherrenaissance dienen. Last but not least, so hätte Andersons Buch auch eines besseren Lektorates bedurft: Nicht nur in den deutsch- oder schwedischsprachigen Titeln des Literaturverzeichnisses, sondern auch im englischsprachigen Text finden sich zu viele Tippfehler.
Anmerkung:
[1] Heinrich Assel: Der andere Aufbruch - Die Lutherrenaissance - Ursprünge, Aporien und Wege: Karl Holl, Emanuel Hirsch, Rudolf Hermann (1910-1935), Göttingen 1994.
Mary Elizabeth Anderson: Gustaf Wingren and the Swedish Luther Renaissance (= American University Studies. Series VII: Theology and Religion; Vol. 243), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2006, x + 171 S., ISBN 978-0-8204-6339-1, EUR 55,20
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