In diesem Buch wird gearbeitet. Ganzseitig leuchten Baustellenbilder auf: Aus dem 13. Jahrhundert ein Galgenkran mit zwei Rollen, über die mit der Hand das Seil gezogen wird und aus der Weltchronik des Rudolf von Ems ein Auslagekran mit Laufrad, Steinzange und Seilschlaufe, dann wieder Werkleute auf einem Stangengerüst mit Laufschräge. Das gezeigte Bauvolumen bleibt stets überschaubar, zielen doch die ausgewählten Darstellungen weniger auf das Bauwerk, sondern vielmehr auf die Werkleute, auf die Werkzeuge und die verschiedenen Arbeitsabläufe. Günther Binding erläutert den mittelalterlichen Baubetrieb ausgehend von seinen unterschiedlichen Akteuren für ein breites Publikum.
Dem folgt die Gliederung in die Kapitel "Bauherr und Verwalter", "Der Werkmeister" und "Die Handwerker". Den Abschluss bildet dann ein Kapitel über "Beschaffung und Transport der Baumaterialien". Eingeschoben und grafisch abgesetzt sind mehrseitige Exkurse: der Bericht des Mönchs Gervasius über den Wiederaufbau der Kathedrale von Canterbury, Münzwesen im Mittelalter, die Kathedrale von Reims, die Westtürme der Kathedrale von Laon, der Dombau zu Speyer, der Kölner Dom, die Handwerker in der Mendel'schen Zwölfbrüderstiftung zu Nürnberg und schließlich die Ausführungen von Abt Suger über den Neubau der Abteikirche Saint-Denis bei Paris. Angehängt sind ein Bildglossar, Literatur in Auswahl und ein Ortsregister.
Zu allen genannten Bereichen hat Binding mit seinen zahlreichen Untersuchungen über den mittelalterlichen Baubetrieb Maßstäbe gesetzt, vor allem auf der Grundlage seiner Analysen der schriftlichen Quellen, zuletzt zusammen mit Susanne Linscheid-Burdich die Auswertung der Quellentexte aus dem frühen und hohen Mittelalter bis 1250. Ein anderes Gemeinschaftswerk erschien bereits vor dreißig Jahren, ebenfalls in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft: "Der mittelalterliche Baubetrieb nördlich der Alpen in zeitgenössischen Darstellungen", mit einem 336 Positionen umfassenden Katalog zeitgenössischer Illustrationen mittelalterlicher Baustellen von Norbert Nussbaum. [1] Das war noch zu einer Zeit, als der Name Villard de Honnecourt auf die Herkunft des französisch mit picardischem Dialekt schreibenden Verfassers wies, während es nun auch bei Binding ganz selbstverständlich heißt, dass "Villard schreibunkundig war wie im frühen und hohen Mittelalter bei Laien allgemein üblich." (52) Wilhelm Schlink hatte 1999 diese für viele gewöhnungsbedürftige Vorstellung gut begründet in die Welt gesetzt. [2] Zum Befund, dass erst aus der Mitte des 13. Jahrhunderts maßstäbliche Zeichnungen bekannt sind, heißt es dann: "Die Form des geplanten Gebäudes existierte zunächst nur in der Vorstellung des Architekten; der Grundriss wurde danach unmittelbar auf dem Bauplatz aufgemessen und mit Schnüren und Pflöcken oder mit hellem Sand vermarkt; so geschah es schon in der Antike." (47) Das am häufigsten gegen diese begründete generalisierende Sicht vorgebrachte Gegenargument einer möglichen Überlieferungslücke findet keine Erwähnung. Und im entsprechenden Abschnitt über die Vermessung und Grundsteinlegung werden dann die Änderungen im Baufortgang bei der Errichtung des Speyrer Domes als Argument für das konstatierte Fehlen eines Bauplanes angeführt: "Wichtig ist festzuhalten, dass für eine der größten romanischen Kirchen (134 m lang), die als Grablege des Herrscherhauses vorgesehen war und genutzt wurde, keine Planung vorlag, sondern die Baugestalt sich erst während des Baufortganges durch mehrere Planänderungen entwickelt hat." (71) Für Gegenpositionen ist da wenig Platz.
Besonders hervorgehoben zu werden verdient Bindings Leistung, in diesem an ein breites Publikum adressierten Werk eine allgemein verständliche Darstellung ohne Abstriche an der Fachterminologie vorzulegen. Dies leisten insbesondere die ausführlichen Kommentare zu den großformatigen, meist ganzseitigen Abbildungen. So wird das Werkmeisterkapitel eingeleitet mit einem Blatt aus den "Grandes Chroniques de Saint-Denis", das den Bau einer gotischen Kirche im 14. Jahrhundert zeigt, was in anderen Fällen schon als Bildbeischrift genügen mag. Hier heißt es im Bildkommentar weiter: "Der Bauherr mit seinen Bauverwaltern lässt sich vom Werkmeister über den Baufortschritt informieren. Links schlagen Steinmetzen Pfeilerprofile, Maßwerk und Quader (Spitzfläche, Richtscheit, Winkel für den Quader, Schlageisen und Klöpfel für den Profilstein). Rechts unten mischt ein Mörteler Mörtel, der mit einem 'Vogel' über eine Leiter auf das Bockgerüst getragen wird, wo ein Steinmetz die Quader versetzt. Im Inneren steht ein Galgenkran, der eine Holztrage mit einem Quader aufzieht (Toulouse, Bibliothèque municipale, Ms 512, fol. 96)." Tatsächlich gehört eben diese dritte Textebene, die der Bildkommentare, in Verbindung mit der großzügigen Bildausstattung, die für eine solche differenzierte Kommentierung konstitutiv ist, die aussagekräftige Bildauswahl und die kluge Verzahnung mit dem Haupttext zu den besonderen Stärken dieses Buches. Günther Bindings Werk ist eine ebenso profunde wie anschauliche Darstellung des mittelalterlichen Baubetriebs mit dem Blick auf Bauherr, Bauverwalter, Werkmeister und Handwerker auf der Basis der schriftlichen Quellen wie der zeitgenössischen Illustrationen mittelalterlicher Baustellen.
Anmerkungen:
[1] Günther Binding und Norbert Nussbaum: Der mittelalterliche Baubetrieb nördlich der Alpen in zeitgenössischen Darstellungen, Darmstadt 1978.
[2] Wilhelm Schlink: "War Villard de Honnecourt Analphabet?", in: Pierre, lumière, couleur. Études d'histoire de l'art du Moyon Âge en l'honneur d' Anne Prache (= Cultures et Civilisations Médiévales, XX), herausgegeben von Fabienne Joubert / Dany Sandron, Paris 1999, 213-221.
Günther Binding: Als die Kathedralen in den Himmel wuchsen. Bauen im Mittelalter, Darmstadt: Primus Verlag 2006, 136 S., ISBN 978-3-89678-283-0, EUR 34,90
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