Um die nebulöse Phase der frühen Architekturmoderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts in ein kunsthistorisches Profil zu überführen, sind bereits viele Versuche einer Kategorisierung unternommen worden. Sie reichen von der Bezeichnung als "Späthistorismus" über "Jugendstil" bis hin zum "Neoklassizismus"; in einigen Fällen ist auch von einem "Reduktionsstil" oder einem frühen "Funktionalismus" die Rede. In den letzten Jahren tritt in diesem Zusammenhang die Kennzeichnung als "Reformarchitektur" vermehrt in den Vordergrund. Dies lässt sich durch die kulturwissenschaftlichen Studien zur Lebensreformbewegung um 1900 erklären (die auch für die Kontextualisierung der Jugendstilarchitektur relevant sind) sowie weiterhin durch die Ergebnisse der Recherchen in den damaligen Architekturpublikationen.
Das vorliegende Buch ist eine stark gekürzte Fassung der 1998 fertiggestellten Habilitationsschrift der Autorin. Sigrid Hofer will mit ihren Studien diese Reformarchitektur in Deutschland zwischen 1900 und 1918 als eigenständigen Beitrag neben Späthistorismus und Jugendstil platzieren. Sie geht hier fast ausschließlich von den Textquellen der Zeit aus, wie den Architektur- und Kulturzeitschriften und den theoretischen Darlegungen der Architekten und kann so mit ihren neuen Ergebnissen das eingefleischte Schwarz-Weiß-Schema der Kontroverse zwischen konservativer Tradition und innovativer Moderne erfolgreich überblenden.
Aus dem ersten Abschnitt, in dem sich Hofer mit den kulturhistorischen und stiltheoretischen Voraussetzungen der Reformbewegung befasst, geht bereits klar hervor, dass der Traditionalismus mit Leitbildern wie Regionalismus und Heimatschutz auch und besonders als dezidiertes Reformprogramm gegen Historismus und seelenlose Technisierung der menschlichen Umwelt gelesen werden muss. Der Deutsche Bund Heimatschutz, der 1904 gegründet wurde, versammelte namhafte Künstler und Architekten in seinen Reihen, so Paul Schultze-Naumburg, Theodor Fischer, Hermann Muthesius oder Richard Riemerschmid. Organ dieser Bewegung war der "Kunstwart", herausgegeben von Schultze-Naumburg, der dort ab 1904 seine berühmt-"berüchtigten" "Kulturarbeiten" publizierte. Viele Architekten aus der Heimatschutzbewegung wurden dann auch ab 1907 Mitglieder im Deutschen Werkbund mit dem Vorhaben, eine qualitätsvolle deutsche Kunst und Architektur zu lancieren. Diese Suche nach einer nationalen kulturellen Identität ging einher mit dem Rückgriff auf heimische Bautraditionen und der Orientierung an dem "einfachen" und "ehrlichen" Baustil der Zeit "um 1800", wie ihn Paul Mebes in seiner berühmten Schrift charakterisierte. Die Verwendung historischer Bau- und Raumkonzepte aus Barock und Klassizismus (besonders Langhans und Schinkel) wurde jedoch nicht als eklektizistische Praxis verstanden, sondern vielmehr als ein zweckmäßiges modernes Bauen auf der Grundlage bewährter Traditionsvorgaben.
Mit einer Auswahl der sieben Architekten Heinrich Tessenow (fehlt im Inhaltsverzeichnis!), Paul Bonatz, Paul Schultze-Naumburg, Friedrich Ostendorf, Alfred Messel, Paul Mebes und Peter Behrens bietet Sigrid Hofer im zweiten Teil ihres Buches Porträts von "Reformern", die auf jeweils unterschiedliche Art und Weise historische Baustrukturen mit ihren innovativen Architekturprogrammen verbunden haben. Schultze-Naumburg erhält in dieser Neubewertung eine Ehrenrettung von seinem Image des ideologischen Vorreiters der Nationalsozialisten und entpuppt sich als Vertreter des Funktionalismus, der den Einsatz aller technischen Vorteile wie "Dampfheizung, Warmwasserleitung, Kanalisation" im bürgerlichen Wohnhaus befürwortete (73). Als im Nachhinein seiner Zeit weit vorausweisendes Bauwerk ist Paul Mebes' Verwaltungsgebäude der Nordsternversicherung in Berlin von 1914 zu werten, dessen geschwungene Kontur des Baukörpers sowie die einheitliche Rasterung der Fassade an expressionistische Stromlinienformen der 1920er Jahre eines Erich Mendelsohn oder Fritz Höger erinnern. Die in dieser Gruppe herausragenden Architekten sind sicherlich Paul Bonatz mit seinem legendären Entwurf für den Stuttgarter Hauptbahnhof sowie Peter Behrens, dessen Gesamtœuvre als stellvertretend für die architektonischen Experimente der frühen Moderne verstanden werden kann: In der Frühphase bis 1907 wechseln die Einflüsse des Wiener Jugendstils und des englischen bzw. schottischen Landhausstils sich ab, dazwischen gibt es direkte Bezüge zur Antike und zur Protorenaissance (Krematorium in Hagen). Bereits 1909 entwirft Behrens mit der AEG-Turbinenhalle in Berlin eine Inkunabel der Industriearchitektur, die mit ihrer reduzierten Glasfassade zum Bild des funktionalen Bauens schlechthin werden sollte. Kurz danach baute Behrens dann aber auch ein so stark neoklassizistisch ausgeprägtes Gebäude wie die Deutsche Botschaft in St. Petersburg, deren strenge Kolossalgliederung einen monumentalen Anspruch vermittelt.
Die abschließende Auswertung der Studien zu den reformerischen Ansätzen der Architektenszene ab 1900 fällt leider mit der Beschränkung auf die Baugattung Wohnungsbau etwas reduziert aus. Das mag wahrscheinlich mit der verkürzten Fassung der Habilitationsschrift in der Publikation zu tun haben. So werden hier nur die wichtigsten Merkmale der Reformdebatte aufgereiht, aber nicht weiter erklärend dargestellt. Dennoch ist mit Sigrid Hofers Studie ein wichtiger Grundstein gelegt für eine Neusortierung und -bewertung der frühen Architekturmoderne, die mit dem Begriffspaar von "Zweckmäßigkeit" und "Tradition" eine Reform in die Wege leitete.
Sigrid Hofer: Reformarchitektur 1900-1918. Deutsche Baukünstler auf der Suche nach dem nationalen Stil, Fellbach: Edition Axel Menges 2005, 175 S., ISBN 978-3-936681-01-7, EUR 69,00
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