sehepunkte 9 (2009), Nr. 2

Ulrich Ufer: Welthandelszentrum Amsterdam

Eine Dissertation unter dem Titel "Welthandelszentrum Amsterdam" zu publizieren, ist insofern ein Wagnis, als sowohl der niederländische Welthandel im 17. Jahrhundert als auch die städtische Gesellschaft und Kultur der niederländischen Republik seit Jahrzehnten Gegenstand intensiver Forschung sind. Bei diesem Thema stellt sich also in besonderer Weise die Frage, welche neuen Quellen der Autor erhoben und ausgewertet hat, welche Methoden er anwendet und wie er sich mit dem hoch entwickelten Forschungsstand auseinandersetzt. Die ersten dreieinhalb Seiten der Einleitung, die unter der Überschrift "Methode und Konzeption" stehen, lassen diese Fragen weitgehend unbeantwortet, heißt es hier doch lediglich, es werde "ein breites Spektrum von Quellen zeitgenössischer [...] Autoren mit Hilfe einer Vielzahl von soziologischen und sozialanthropologischen Konzepten und Theorien analysiert und interpretiert" (3). Die Kriterien der Quellenauswahl werden jedoch weder hier noch an anderer Stelle näher erläutert.

In den ersten beiden Kapiteln beschreibt Ufer unter Rückgriff auf die Weltsystemtheorien von Immanuel Wallerstein und Andre Gunder Frank die ökonomische Stellung Amsterdams im 17. Jahrhundert aus makrohistorischer Perspektive. Die Akkumulation von Wohlstand in den nördlichen Niederlanden stellt er als "Ergebnis globaler Prozesse" dar (68). Im dritten Kapitel arbeitet der Verfasser heraus, dass dieser Wohlstand vor allem der kleinen Gruppe von Händler-Regenten sowie einer Mittelschicht, die etwa ein Drittel der Einwohnerschaft Amsterdams umfasste, zugute kam, während die Masse der arbeitenden Bevölkerung kaum davon profitierte. Die Kapitel vier bis neun beschäftigen sich mit der Kommerzialisierung und Modernität städtischen Lebens. Ufer zeigt, dass sich den Amsterdamer Ober- und Mittelschichten eine Vielzahl von neuen Konsumoptionen und Möglichkeiten der Freizeitgestaltung boten. Phänomene des modernen Großstadtlebens wie Anonymität, Hektik und Zeitknappheit lassen sich bereits in der frühneuzeitlichen niederländischen Metropole beobachten. Die städtischen Eliten nutzten den Reichtum an materiellen Gütern als Medium sozialer Distinktion, wobei sie sich "an einem Ideal der urbanen Civilité" orientierten (190). In den privilegierten Wohngegenden entlang der im 17. Jahrhundert angelegten Grachten schuf sich die Elite zugleich private Schutz- und Rückzugsräume. Eine besondere Bedeutung als "soziale Statusmarker" (249) erlangten die aus Asien importierten bzw. nach asiatischen Vorbildern hergestellten Luxus- und Konsumgüter - Gewürze, Tee und Porzellan, aber auch Lackmöbel, Kimonos und Spazierstöcke aus Rattan.

Im zehnten Kapitel wird der kosmopolitische Charakter der Amsterdamer Elite an dem Kaufmann Benjamin Burlamacchi und seinem Haushalt exemplifiziert. Das abschließende elfte Kapitel fragt danach, wie die Amsterdamer ihren ökonomischen Aufstieg und materiellen Wohlstand selbst wahrnahmen. Ufers These lautet, dass die Einstellung der städtischen Eliten zu ihrer Umwelt "als ein ausgeprägter Egozentrismus und als ein ans Manische grenzender Aneignungstrieb" zu interpretieren sei (304). Sofern man derartige sozialpsychologische Erklärungsansätze überhaupt für sinnvoll hält, wird man die Frage stellen müssen, ob die als Belege dafür bemühten Allegorien des Handels und poetischen Beschwörungen des eigenen Erfolgs diese These stützen, bemühten doch selbst die Herrscher mittlerer und kleinerer deutscher Fürstentümer im Barockzeitalter häufig allegorische Erdteilsdarstellungen und Götterhimmel, um ihre eigene Bedeutung zu überhöhen.

Obwohl Ufer in einigen Kapiteln durchaus interessante Einblicke in Aspekte urbanen Lebens im 17. Jahrhunderts gelingen, hinterlässt seine Arbeit einen ausgesprochen zwiespältigen Eindruck. Dies liegt zum einen an seiner Quellenbasis. Archivalische Quellen werden nur im zehnten Kapitel über Benjamin Burlamacchi in nennenswertem Umfang herangezogen, über den bereits eine neuere monographische Studie vorliegt. [1] Die ansonsten verwendeten gedruckten Quellen - Theaterstücke, Gedichte, Reisebeschreibungen, Traktate etc. - werden in der Regel nicht in ihren Diskurs- und Gattungszusammenhängen analysiert, sondern auf Aussagen zu Einzelphänomenen urbanen Lebens hin befragt. Formulierungen wie ein "Theaterstück [...] eröffnet [...] einen Einblick in die kommerzialisierte Geschäftswelt der Amsterdamer Armut zu Beginn des 17. Jahrhunderts" (133) oder "[e]in Gemälde [...] illustriert die Schwierigkeiten, die strenge Winter der Amsterdamer Wirtschaft bereiteten" (143), hinterlassen den Eindruck eines impressionistischen Quellengebrauchs, der an ältere Formen der Kulturgeschichtsschreibung denken lässt.

Zum anderen ist zu bemängeln, dass der Verfasser sich vielfach nicht auf dem aktuellen Forschungsstand befindet. Besonders eklatant zeigt sich dies in seiner Darstellung des niederländischen Welthandels im 17. Jahrhundert. Die wichtige Studie von Clé Lesger, die den ökonomischen Aufstieg Amsterdams zwischen 1550 und 1630 im Kontext des Gateway-Systems niederländischer Städte und des Aufstands der Niederlande verortet [2], wird ebenso wenig rezipiert wie maßgebliche neuere Arbeiten zum Amsterdamer Ostsee- und Russlandhandel [3], zur kaufmännischen Einwanderung [4] und zum Lebensstandard in Holland. [5] An Literatur zur jüdischen Bevölkerung Amsterdams wird zwar eine einseitige (!) Miszelle aus dem Jahre 1936 zur Kenntnis genommen, die wichtige Arbeit von Daniel Swetschinski hingegen ignoriert. [6] Zum Teekonsum wäre die Monographie von Annerose Menninger zu berücksichtigen gewesen, zumal sie auf Autoren wie den von Ufer zitierten Cornelis Bontekoe (275) ausführlich eingeht. [7] Michael Norths Studie über den niederländischen Kunstmarkt ist im Rezensionsexemplar zwar als Buchanzeige des Böhlau-Verlags gegenwärtig, findet sich aber nicht im Literaturverzeichnis. [8] Auch wichtige Sammelbände zur Handels- und Kulturgeschichte fehlen. [9]

Ferner ist die Arbeit nicht frei von sachlichen Fehlern. Erzbischof William Laud hatte in England unter Karl I. (1625-1649) bis 1641 eine wichtige Stellung inne und wurde 1645 hingerichtet. Mit "der Restauration des Königshauses Stuart im Jahre 1660" (225) konnte er folglich nichts mehr zu tun haben. Kalikut an der indischen Malabarküste ist von Kalkutta in Bengalen zu unterscheiden (237). Das Wort "pijpkanneel" ist wohl nicht als "Pfeifenzimt", sondern als Stangenzimt zu übersetzen (ebd.). Mit dem "Britische[n] Commonwealth des 18. und 19. Jahrhunderts" dürfte das Britische Empire gemeint sein (297). Zumindest fragwürdig ist es zudem, die Burlamacchi als "hugenotttische[n] Clan" (280) zu bezeichnen. Zweige der Familie waren zwar auch in Genf und Lyon ansässig, doch kamen die Burlamacchi ursprünglich aus Lucca. Sie waren also eine italienischstämmige Familie, deren Mitglieder sich im 17. Jahrhundert an zahlreichen europäischen Handelsplätzen nachweisen lassen.

Die Sprache ist von Anglizismen wie "Influx", "agrikulturell" und "Kookkurenzen" durchsetzt, und Fernard Braudel wird merkwürdigerweise weder im französischen Original noch in deutscher Übersetzung, sondern auf englisch zitiert (316). So kann der Rezensent am Ende nur bedauern, dass der Verfasser nicht mehr Sorgfalt auf diese Studie verwandt hat und die Betreuer sie nicht gründlicher gelesen haben.


Anmerkungen:

[1] Martha Peters: De wereld van Benjamin Burlamacchi, Utrecht 1995.

[2] Clé Lesger: The Rise of the Amsterdam Market and Information Exchange. Merchants, Commercial Expansion and Change in the Spatial Economy of the Low Countries, c. 1550-1630, Aldershot 2006.

[3] Milja van Tielhof: The Mother of All Trades. The Baltic Grain Trade in Amsterdam from the Late Sixteenth to the Early Nineteenth Century, Leiden 2002; Jan Willem Veluwenkamp: Archangel. Nederlandse ondernemers in Russland 1550-1785, Amsterdam 2000.

[4] Oscar Gelderblom: Zuid-Nederlandse kooplieden en de opkomst van de Amsterdamse stapelmarkt (1578-1630), Hilversum 2000.

[5] Leo Noordegraaf: Hollands Welvaren? Levensstandaard in Holland 1450-1650, Bergen 1985.

[6] Daniel M. Swetschinski: Reluctant Cosmopolitans. The Portuguese Jews of Seventeenth-Century Amsterdam, London 2000.

[7] Annerose Menninger: Genuss im kulturellen Wandel. Tabak, Kaffee, Tee und Schokolade in Europa (16.-19. Jahrhundert), Stuttgart 2004.

[8] Michael North: Das Goldene Zeitalter. Kunst und Kommerz in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, 2. erw. Aufl., Köln/Weimar/Wien 2001.

[9] Clé Lesger / Leo Noordegraaf (eds.): Entrepreneurs and Entrepreneurship in Early Modern Times. Merchants and Industrialists within the Orbit of the Dutch Staple Market, Den Haag 1995; Dies. (eds.): Odernemers & bestuurders. Economie en politiek in den Noordelijke Nederlanden in de late middeleeuwen en vroegmoderne tijd, Amsterdam 1999; Patrick O'Brien / Derek Keene / Marjolein 't Hart/ Herman van der Wee (eds.): Urban Archievement in Early Modern Europe. Golden Ages in Antwerp, Amsterdam and London, Cambridge 2001.

Rezension über:

Ulrich Ufer: Welthandelszentrum Amsterdam. Globale Dynamik und modernes Leben im 17. Jahrhundert (= Stuttgarter Historische Forschungen; Bd. 8), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2008, XX + 359 S., ISBN 978-3-412-20118-0, EUR 52,90

Rezension von:
Mark Häberlein
Lehrstuhl für Neuere Geschichte, Otto-Friedrich-Universität, Bamberg
Empfohlene Zitierweise:
Mark Häberlein: Rezension von: Ulrich Ufer: Welthandelszentrum Amsterdam. Globale Dynamik und modernes Leben im 17. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 2 [15.02.2009], URL: https://www.sehepunkte.de/2009/02/14231.html


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