Die verschiedenen Erinnerungen an die Vernichtung der europäischen Juden und den jeweiligen nationalen politischen Umgang zu beleuchten, ist Ziel des Sammelbandes, den Jan Eckel und Claudia Moisel Ende 2007 in den Beiträgen zur Geschichte des Nationalsozialismus (BGNS) herausgegeben haben. Untersucht werden sollen die "Mechanismen und Effekte", welche eine "veränderte Wahrnehmung des Holocaust am Ende des 20. Jahrhunderts" bedingten (10). Die Herausgeber haben sechs 'Länderberichte' zusammengestellt, die sich vornehmlich auf die westliche Welt beziehen. Als einziger osteuropäischer Staat wird Ungarn portraitiert, dessen erinnerungspolitischen Diskurse und Auseinandersetzungen Regina Fritz und Imke Hansen kompetent darlegen. Die beiden abschließenden Aufsätze des Bandes weisen auch auf den historischen Beginn der 'Universalisierung' der Erinnerung: zum einen auf die "Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Research", zum anderen auf die europäische Gedenkpolitik, die neuerdings vornehmlich am 27. Januar, der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee, in Erscheinung tritt.
Alle Essays versuchen die memorialen Neuerungen als Neuerungen zu begreifen, die durch den weltumspannenden Umbruch 1989/90 bedingt sind. Das Ende der Blockkonfrontation machte es möglich, dass die Vereinten Nationen im November 2005 den 27. Januar als weltweiten "Holocaust Memorial Day" setzten. Das neue Jahrtausend beginnt dadurch mit einem deutlichen Rekurs auf das vergangene short century (Eric Hobsbawm). Die 'Endlösung' wird ein institutionalisierter supranationaler Referenzpunkt einer Welt, die vor allem durch die "Globalisierung" gekennzeichnet sei. Auf der Ebene der Europäischen Union begann mit dem Stockholmer "International Forum on the Holocaust" eine geschichtspolitische Ägide, die die durch Institutionen vermittelte Erinnerung an Auschwitz, als notwendiges Moment einer wertebasierten europäischen Identität begreift. [1] Die Tendenz nationale Narrative des Zweiten Weltkriegs abzugleichen, diese selbst zu internationalisieren und entlang der Ergebnisse der geschichts- und politikwissenschaftlichen Experten der Gremien der "Task Force" anzunähern, stößt auf Grenzen (vgl. 41f., 58, 84f., 168ff.). Die nationalen Narrative sind beschränkt, wenn es um die Integration der Shoah geht. Dies gilt in der ehemaligen östlichen und aber ebenso in der westlichen Hemisphäre, wie die Darstellungen zu Belgien (Christoph Brüll / Nina Burckhardt), den Niederlanden (Nina Burckhardt) und Australien (J. Olaf Kleist) belegen. Denn ähnlich dem deutschen Nachkriegsbewusstsein scheint es in der Konstruktion der Erinnerung der ehemaligen alliierten Staaten und besetzten Länder keinen Platz für die ermordeten und überlebenden jüdischen Bürger gegeben zu haben - oder zu geben.
Auffallend ist, dass die Autorinnen und Autoren bezüglich eines theoretischen Rahmens zumeist auf die gleiche grundlegende Literatur verweisen: Dan Diners 2001 erschienenen Aufsatz "Der Holocaust in den politischen Kulturen Europas"[2], auf den Epilog aus Tony Judts seitenstarker "Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg"[3] und auf die Untersuchung "Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust" von Daniel Levy und Natan Sznaider [4]. Vor allem Judt versucht überblicksartig die Stufen der Erinnerung der ost- und westeuropäischen Länder darzustellen. Der Band von Eckel und Moisel leistet zumindest für einige Länder eine nötige Untermauerung dieser Skizzen.
Entgegen Judt, der letztlich aufgrund eines unklaren theoretischen Leitfadens, sich nur noch auf Leid - und gar noch kollektives Leiden - kapriziert und deswegen das Gedächtnis für einen "schlechten Führer in die Vergangenheit" hält [5], sieht Diner im Gedächtnis den Modus eines Sich-Ausgleichens der nationalen Erinnerungen Europas [6]. Beide postulieren eine mögliche positive Entwicklung einer Form europäischer Identität unter Rekurs auf den Holocaust. Für diese hält Judt aber ein gewisses Maß des Vergessens an die Shoah für essentiell.
Levy und Sznaider hingegen betrachten in der globalisierten Welt die Möglichkeit, eine kosmopolitische Erinnerung zu setzen; in dieser wird der Holocaust "zu einem 'Container' für Erinnerungen an unterschiedliche Opfer" [7]. Sie weisen aber deutlich auf die tendenzielle Nivellierung der Judenvernichtung im Zuge der 'Universalisierung der Erinnerung' hin.
Unterschiedliche Gewichtungen und deutliche Unklarheiten über die Ausgestaltung der zukünftigen Welt sind allen drei neueren Grundierungen universeller Erinnerung eigen - und zeigen die Grenzen der europäischen, universellen oder gar kosmopolitischen Erinnerung auf. Der Band weist durch den Essay von Harald Schmid auf ein deutlich positiveres, praxisgeleitetes Fazit der Diskussion der Historie der "Universalisierung des Holocaust" hin. Die Reduktion von Auschwitz zu einer "Chiffre" und die durch die EU und die "Task Force" betriebene Angleichung der nationalen Narrative von Weltkrieg und Judenvernichtung würden eine "Entgrenzung" des "erinnerungskulturellen Partikularismus" einleiten (201). Der europäische "Holocaust Gedenktag" wäre so auch nicht ein Eingedenken der Opfer, sondern "ein politisches Moment im Rahmen des europäischen Einigungsprozesses", um die schwache europäische Identität zu stärken (201f.).
Deutlich wird durch die einzelnen Darstellungen des Bandes, wie sehr der politische Umgang mit der Erinnerung an die Vernichtung der europäischen Juden prägnante Züge gegenwärtiger Diskurse und Diskussionen trägt. Interessant wäre zu untersuchen, in wieweit dasselbe nicht auch für die EU gilt. Sie würde somit keinen Ausweg aus den nationalen Interpretationen von Auschwitz bieten, sondern die gleichen Probleme auf bloß neuer Ebene reproduzieren.
In Bereichen der Wissenschaft würde die konstatierte "Universalisierung des Holocaust" auf einen relativ leeren Begriff hinauslaufen. [8] Durch die "Container"-Funktion würde die Shoah zu einer Spielmarke in der Auseinandersetzung um die jeweils 'richtige' Ausdeutung der Vergangenheit werden, und so die historisch ebenfalls leere Metapher des "Bösen" ablösen. Dieser Gefahr der Instrumentalisierung der Erinnerung sollte sich vor allem eine Wissenschaft, die sich hoffentlich der historischen Erkenntnis verpflichtet fühlt, mindestens gewahr sein.
Insgesamt bietet der vorliegende Band der BGNS einen anregenden Überblick über die Forschungsergebnisse und (mögliche) Entwicklung der Holocaust-Erinnerung. Er gibt Einblick in ein junges Feld der NS-Forschung, bei dem nicht mehr so sehr das historische Geschehen fokussiert wird, sondern die in der Nachgeschichte stattfindende Verarbeitung und erinnerungspolitische Aufbereitung. Probleme und Hindernisse einer "Universalisierung des Holocaust" werden aber leider in den Essays selbst wenig dezidiert thematisiert, wenn gleich sie Gegenstand der das Thema grundlegend betrachtenden Überlegungen Diners, Judts, Levys und Sznaiders sind. Hingegen bleibt aber auch zu konstatieren, dass ein universalisiertes Bewusstsein über die Vernichtung der europäischen Juden selbst noch nicht existiert und aber gerade durch den Aufstieg der EU zu einem 'global player' entstehen könnte. Der Bedeutungshorizont der "Universalisierung des Holocaust" bleibt deswegen vorläufig noch unklar.
Anmerkungen:
[1] Kritik einer europäischen Identität, die sich vor allem auf ein Set von 'Werten' bezieht, äußert Olaf Asbach: Der Wert 'Europa' - seine Bestandteile, Definitionen und Funktionen (aus politikwissenschaftlicher Sicht), in: Kerstin Armborst / Wolf-Friedrich Schäufele (Hgg.): Der Wert "Europa" und die Geschichte. Auf dem Weg zu einem europäischen Geschichtsbewusstsein, Mainz 2007, 7-31.
[2] In: Klaus-Dietmar Henke: Auschwitz. Sechs Essays zu Geschehen und Vergegenwärtigung, Dresden 2001, 65-74.
[3] Tony Judt: Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, München/Wien 2006, 930-966.
[4] Daniel Levy / Natan Sznaider: Erinnerungen im globalen Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt/Main 2007.
[5] Judt, Geschichte, 964f.
[6] Diner, Holocaust, 71.
[7] Levy / Sznaider, Erinnerung, 229.
[8] "Holocaust" selbst ist ein 'leerer Begriff', der, der Kulturindustrie entlehnt, in seiner präzisen Bedeutung der Vernichtung der europäischen Juden durch seinen religiös-kultischen Charakter noch Sinn supponiert. Vgl. dazu Detlev Claussen: Grenzen der Aufklärung. Die gesellschaftliche Genese des modernen Antisemitismus, erw. Neuausgabe, Frankfurt/M. 2005, XIIIf.
Jan Eckel / Claudia Moisel (Hgg.): Universalisierung des Holocaust? Erinnerungskultur und Geschichtspolitik in internationaler Perspektive (= Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus; Bd. 24), Göttingen: Wallstein 2008, 253 S., ISBN 978-3-8353-0310-2, EUR 20,00
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