Die Hansestadt Stralsund war nicht nur eines der wichtigsten mittelalterlichen Kulturzentren des Ostseeraumes, sie hat auch ihr historisches Erscheinungsbild vergleichsweise gut bewahrt, nicht nur in Hinblick auf die Architektur, sondern auch in Hinblick auf eine Vielzahl von mobilen Kunstwerken. In den letzten Jahrzehnten wird sich die kunsthistorische Forschung immer klarer darüber, wie wichtig es ist, in einer gattungsübergreifenden Sicht historische Ensembles zu betrachten. Dabei rücken verstärkt Objekte und Themen in den Vordergrund, die bisher etwas stiefmütterlich behandelt wurden. Besonders die Textilforschung hat in der letzten Zeit einen erstaunlichen Aufschwung genommen. Das ist nicht zuletzt das große Verdienst der Schweizer Abegg-Stiftung, die auch den vorliegenden Band publiziert hat. Voraussetzung für diese große wissenschaftliche Leistung war jedoch die Wiedervereinigung, denn einige der wichtigsten historischen Textilbestände befinden sich auf dem Gebiet der ehemaligen DDR; bekannt sind vor allem die liturgischen Gewänder der Domschätze von Halberstadt und Brandenburg, letzteren wurde bereits - ebenfalls unter Mitwirkung der Abegg-Stiftung - eine vorbildhafte Publikation gewidmet (Helmut Reihlen (Hg.): Liturgische Gewänder und andere Paramente im Dom zu Brandenburg, Regensburg 2005). Auf eine entsprechende Arbeit zu Halberstadt darf man gespannt sein. Zwar sind die großen Domschätze ebenso wie die meisten anderen Bestände auch vor 1990 der wissenschaftlichen Forschung durchaus zugänglich gewesen, dennoch waren die Probleme der Einreise und des Aufenthalts zumal für junge Wissenschaftler nicht gerade gering. In der DDR selbst war das Interesse an mittelalterlichen Textilien jedoch eher klein, wenn auch auf restauratorischem Gebiet sehr viel geleistet wurde.
Zu den weniger bekannten mittelalterlichen Textilbeständen gehören die zahlreichen liturgischen Gewänder, die sich heute im Bestand des Kulturhistorischen Museums in Stralsund befinden. Diese Stücke werden nun von Juliane von Fircks und Birgit Krentz ausführlich vorgestellt und wissenschaftlich gewürdigt. Insgesamt handelt es sich gegenwärtig um etwas mehr als 40 Stücke, von denen zumindest einige wohl aus dem Besitz des Stralsunder Kalands stammen, einer angesehenen Priesterbruderschaft, die in veränderter Form auch nach der Reformation fortbestand. Einige Stücke dürften auch zur Ausstattung der großen Stralsunder Pfarrkirchen gehört haben. Die ursprünglich für den katholischen Gottesdienst bestimmten Gewänder wären zweifellos untergegangen, wenn sie nicht auch im Luthertum benutzt worden wären. Die Belege dafür sind zahlreich. Allerdings überrascht in Stralsund die große Zahl der Diakons- und Subdiakonsgewänder. Vielleicht wurden diese doch nicht einfach nur aufbewahrt, sondern weiterhin benutzt; möglicherweise besonders von lutherischen Geistlichen, die den Titel Diakon führten. Wieso sich aber ausgerechnet so viele Manipel erhalten haben, bleibt ein kleines Geheimnis. Es sind immerhin 21. Den besonderen Rang der Stralsunder Bestände macht nicht zuletzt die gute Erhaltung der Stücke aus. Während in katholischen Gegenden die meisten alten Gewänder in nachreformatorischer Zeit modernisiert wurden, blieben in Stralsund weitgehend die mittelalterlichen Schnitte erhalten. Genauso bemerkenswert sind jedoch die verwendeten Stoffe, bei denen es sich überwiegend um zentralasiatische Prunkgewebe handelt.
Am Beginn des Buches stehen einige Seiten, auf denen das zugrundeliegende große Forschungsprojekt vorgestellt wird. Es folgt eine Einführung und eine ausführliche quellengestützte Darlegung zur Geschichte des Paramentenschatzes (16-29). Leider weiß man recht wenig über die liturgischen Verhältnisse im vorreformatorischen Stralsund. Passend schließt sich diesen Passagen eine Edition der einschlägigen Stralsunder Inventare an (31-41), die Hauptquelle datiert aus dem frühen 17. Jahrhundert und belegt, wie umfangreich die Bestände damals noch waren. Ein weiteres Kapitel trägt die Überschrift "Luxusgut Seide im spätmittelalterlichen Stralsund" (42-49). Zentrale Bedeutung hat die sich anschließende umfangreiche Abhandlung über "Prachtstoffe aus dem mongolischen Großreich" (50-61). Diese Stoffe werden von der Verfasserin in einen großen kulturgeschichtlichen Zusammenhang gestellt, der bis hin zu den Kreuzzügen und dem sagenhaften Priesterkönig Johannes reicht. Die Mongolen - Tartaren - erscheinen hier aber gerade nicht als Feinde des Christentums, sondern als dessen mögliche Verbündete z.B. gegen die Mamelucken. Viele rechneten im Westen sogar mit einer Bekehrung der Mongolen. Ein weiterer wichtiger Abschnitt behandelt "Form und Verarbeitung der Gewänder" (62-6). Diese Passagen sind besonders wichtig, denn sie belegen, wie wichtig es ist, wirklich nach dem regionalen Gebrauch und auch nach dem jeweiligen Sprachgebrauch zu fragen, nicht nur in der nachreformatorischen Zeit. Es dürfte jedenfalls auch eine Aussage über das Verständnis der Dalmatik sein, wenn diese als "Mißgewandt mit halben ermelen" (66) bezeichnet wird.
Die einleitenden Passagen des Buches machen eindrucksvoll die überregionale Bedeutung der Stralsunder Textilien klar. Es wird aber nicht nur gezeigt, in welch weite Verbindungen dieser eine Ort einbezogen war, es wird exemplarisch - man kann es nicht anders sagen - die weltumspannende Vernetzung der spätmittelalterlichen Welt belegt.
Den Hauptteil des Buches macht der Katalog aus. 39 Stücke werden behandelt, mit aller wünschenswerten Genauigkeit, aber ohne pedantische Redundanz. Man darf den Katalog vorbildhaft nennen, übrigens auch für seine Lesbarkeit. Hier wird das Buch wirklich fächerübergreifend. Dem nicht speziell geschulten Leser dürfte hier allerdings nichts anderes übrigbleiben, als die vorgelegten Erkenntnisse zur Herkunft der Stoffe einfach zu akzeptieren. Bei der großen Konstanz auch komplizierter Webmuster, angesichts der immer wieder praktizierten Umsiedlung von Kunsthandwerkern und der Übernahme fremder Vorlagen gibt es aber auch für Experten nicht wenige offene Fragen. Generell ist die Geschichte der jeweiligen Produktionsorte nur schlecht erschlossen. Die westlichen Bestände, die für viele Textilien einen terminus ante bieten, spielen jedenfalls für die Erforschung der zentralasiatischen Gewebe eine wichtige Rolle. So finden sich auch auf Stralsunder Stoffen die typischen Stempel (bes. 84-86), die wohl als Qualitäts- und Herkunftsmarken zu verstehen sind, deren tatsächlicher Informationsgehalt aber nicht bekannt ist. Es gibt also noch Forschungsbedarf. Ausführlich gewürdigt werden aber nicht nur die Textilien, deren Muster auch in exzellenten Zeichnungen wiedergegebenen werden, sondern ebenso ihre Verarbeitung. Aus diesem Grunde gibt es zu jedem Objekt entsprechende Schnittzeichnungen.
Da das gesamte Thema sich grundsätzlich nicht leicht erschließt, dürften viele Leser für das hervorragende Glossar sehr dankbar sein. Natürlich gibt es auch ein ausführliches Literaturverzeichnis, ein Orts- und ein Personenregister sowie eine Konkordanz der Inventarnummern.
Nicht genug loben kann man die herrlichen Aufnahmen, die auch in einer optimalen Weise gedruckt wurden. Die Faszination, die die Stoffe bis heute haben, wird hier erlebbar. Die Textilien sprechen dabei für sich selbst, denn jede aufdringliche Inszenierung wird vermieden. So wurde für die Gesamtaufnahmen ein schlichter grauer Hintergrund gewählt. Die Aufnahmen sind dabei technische Meisterleistungen, vor allem die äußerst gut gelungene Ausleuchtung. Man erkennt wirklich die jeweilige Herstellungsweise der Stoffe. Es sind Bilder entstanden, die eine geradezu haptische Qualität besitzen. Damit rundet sich der Gesamteindruck: Das vorliegende Buch ist ein Glücksfall.
Juliane von Fircks: Liturgische Gewänder des Mittelalters aus St. Nikolai in Stralsund. Textiltechnologische Analysen von Birgit Krentz. Aufnahmen von Volkmar Herre, Riggisberg: Abegg-Stiftung 2008, 367 S., ISBN 978-3-905014-37-2, EUR 125,00
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