"Sozialismus als Soziale Frage" - dieser Gleichklang hat im heutigen wiedervereinigten Deutschland eine ungebrochene Kontinuität. Die sozialen "Errungenschaften" sind (neben dem angeblichen Antifaschismus) das Phänomen, das am nachhaltigsten das Bild der DDR abseits der wissenschaftlichen Forschung prägt. Die Wurzeln dieser Entwicklung liegen in der hohen ideologisch-propagandistischen Aufladung, die die Wirtschafts- und Sozialpolitik auf den höchsten Parteiebenen in allen Ländern des östlichen Blocks stets erfuhr. Wie János Kornai 1992 gezeigt hat, wurden im "sozialistischen System" die wirtschaftlichen Strukturen von der Ideologie und dem Willen der Partei zum Machterhalt so nachhaltig geprägt, dass sämtliche Entscheidungen nur innerhalb dieses unverrückbaren Rahmens getroffen werden konnten.
Dieselbe Beobachtung hat M. Rainer Lepsius 1994 am Beispiel der DDR als "Entdifferenzierung der Institutionen" bezeichnet, die bewirkt, dass alle Entscheidungen von Parteiinstanzen getroffen werden. Dieses Phänomen ist für sozialistische Staaten typisch und führt dazu, dass auf dem Gebiet der Wirtschaft die ökonomische Effizienz als Rationalitätskriterium und Handlungsleitfaden stets hinter der politischen Zweckmäßigkeit zurückstehen muss: "Das zentrale Rationalitätskriterium war die Erhaltung der Macht der Partei." [1]
Vor diesem Hintergrund fällt Peter Hübners Untersuchung des "Sozialismus als soziale Frage", die mit Christa Hübner als Koautorin erstellt wurde, seltsam neutral aus. Hübner analysiert die Sozialpolitik der DDR und Polens zwischen 1968 und 1976. Einen prominenten Platz nehmen dabei die Krisenmonate 1970/71 ein, die in beiden Ländern nicht nur Wechsel an den Parteispitzen, sondern auch wirtschafts- und sozialpolitische Kursveränderungen mit sich brachten. Die folgenden Jahre bis zum Ausbruch einer erneuten polnischen Krise 1976 werden kenntnis- und detailreich "gewissermaßen als eine deutsch-polnische Parallelgeschichte" beschrieben (24). Ergänzende Kapitel untersuchen die Perzeption der polnischen Politik durch die SED.
Hochinteressant und aufschlussreich ist die umfangreiche Studie vor allem durch ihren vergleichenden Ansatz, der hier am Beispiel der Sozialpolitik einmal mehr verdeutlicht, dass es sich beim "Ostblock" keineswegs um ein monolithisches Gebilde handelte. Ein deutlicher Unterschied zwischen der DDR und Polen, der entscheidenden Einfluss auf die Gestaltung der jeweiligen Sozialpolitik hatte, war z.B. das Arbeitskräftepotenzial. Während der Betriebsalltag in der DDR von einem ständigen Mangel an Arbeitskräften geprägt war, herrschte in Polen ein spürbarer Überschuss. Ein Schwerpunkt der polnischen Sozialpolitik in den 70er Jahren bestand dementsprechend darin, durch verschiedene Anreize (Teilzeit, dreijähriger unbezahlter Mutterurlaub) Frauen und insbesondere Mütter von einer vollen Erwerbstätigkeit fernzuhalten. Diesem Ziel kam ein Familienbild entgegen, das in Polen traditioneller war als in der DDR. In diesem Zusammenhang bleibt die Rolle der katholischen Kirche in Polen, die die Familien- und Sozialpolitik der Partei wiederholt öffentlich bewertete, jedoch leider unterbelichtet, wie auch überhaupt der Vergleich der Mentalitäten der deutschen bzw. polnischen Bevölkerung und deren Akzeptanz des Systems zu kurz kommt. So wirken die sozialpolitischen Akteure auf den höchsten Ebenen von SED und PVAP zwar stets getrieben, doch was sie antreibt, benennt Hübner lediglich pauschal mit der Anspruchsinflation, die in beiden Ländern die intendierten politischen Wirkungen der "sozialistischen Errungenschaften" schnell zunichtemachte (15, 460). Doch warum verlief dann die Entwicklung in Polen so viel krisenhafter als in der DDR? Nur vage lässt sich ein möglicher Grund dafür herauskristallisieren, wenn Gierek noch auf dem VII. Parteitag der PVAP 1975 davon spricht, Polen habe die "meisten Aufgaben der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus" erfüllt (342). Eine solche Selbsteinschätzung wäre in der DDR schon zu Ulbrichts Zeiten undenkbar gewesen. Offensichtlich waren in Polen tief verwurzelte gesellschaftliche Mechanismen am Werk, die eine ideologische Überheblichkeit der Partei wie im Fall der SED verhinderten und der PVAP auch auf dem Gebiet der Sozialpolitik weniger Spielräume für einen Legitimationszugewinn ließen.
Weil Hübner die allem übergeordnete Ebene der ideologischen Zwänge und des ständigen Legitimationsstrebens der Parteien vernachlässigt, wirkt in der vorliegenden Studie die Sozialpolitik Honeckers und Giereks stark operativ. Tatsächlich aber wurde sie gerade vor dem Hintergrund der polnischen Krise im Dezember 1970 im folgenden Jahrzehnt (und bis zum Ende des Ostblocks) eher stärker für den höheren Zweck des Machterhalts instrumentalisiert als zuvor, wie Christoph Kleßmann und André Steiner gezeigt haben. [2] So bleibt Hübners Bewertung der Streikwelle in Polen 1970/71 unvollständig: Die sozialpolitischen Maßnahmen und Versprechen seien eine "schwere Hypothek" für Gierek gewesen (185) - doch die eigentliche Hypothek bleibt unerwähnt, nämlich die erschossenen Arbeiter und die verlorene Glaubwürdigkeit der polnischen "Arbeiterpartei", die ja gerade durch die sozialpolitischen Versprechen wiederhergestellt werden sollte.
Dieses Defizit des ansonsten äußerst verdienstvollen Buches wird durch einen Aufsatz von Christoph Boyer ausgeglichen, der im Anhang den Blick auf die Tschechoslowakei weitet und die "Tschechoslowakische Sozial- und Konsumpolitik im Übergang von der Reform zur Normalisierung" untersucht. Er bettet die Sozial- und Konsumpolitik nicht nur in das Gesamtsyndrom der "Normalisierung" ein, sondern erklärt sie sogar zu ihrem "zentral wichtigen Element." (473) Diese Untersuchungsebene ermöglicht es, strukturelle Ähnlichkeiten zur DDR sichtbar zu machen: In beiden Ländern folgte dem Reformabbruch eine politische und ökonomische Rezentralisierung und eine Sozial- und Konsumpolitik, die vor allem pazifizierende Funktionen zu erfüllen hatte. Boyers These von der Familienähnlichkeit zwischen dem "Realsozialismus" der DDR und der "Normalisierung" in der ČSSR lässt die Unterschiede zum polnischen Entwicklungspfad, der seit den 70er Jahren trotz aller sozialpolitischen Anstrengungen zu einer immer stärkeren Erosion der Parteimacht führte, umso deutlicher hervortreten. Es erweist sich, dass ein Vergleich der Sozialpolitik erst unter Einbeziehung der ideologisch-legitimatorischen Zwänge, denen alle sozialistischen Regime unterlagen, ein vollständiges Bild ergibt. Insofern rundet erst Boyers Beitrag dieses lesenswerte Buch vollends ab.
In vielen detailreichen und quellennahen Passagen, z.B. über den Umgang der PVAP mit Gomułka nach dessen Sturz oder über Giereks berühmten Auftritt vor Danziger Arbeitern, wird das Buch seinem Hauptanliegen, angesichts des häufig mangelhaften Wissens deutscher Forscher über Polen "ein[en] ganz triviale[n] Informationsbedarf zu befriedigen" (23), jederzeit gerecht.
Anmerkungen:
[1] M. Rainer Lepsius: Die Institutionenordnung als Rahmenbedingung der Sozialgeschichte der DDR, in: Sozialgeschichte der DDR, hg. von Hartmut Kaelble / Jürgen Kocka / Hartmut Zwahr, Stuttgart 1994, 17-30, hier 21.
[2] Christoph Kleßmann: Gesamtbetrachtung, in: Deutsche Demokratische Republik 1961-1971. Politische Stabilisierung und wirtschaftliche Mobilisierung (Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 9), hg. von Christoph Kleßmann, Baden-Baden 2006, 791-813, hier 797; André Steiner: Zwischen Konsumversprechen und Innovationszwang. Zum wirtschaftlichen Niedergang der DDR, in: Weg in den Untergang. Der innere Zerfall der DDR, hg. von Konrad H. Jarausch / Martin Sabrow, Göttingen 1999, 153-192, hier 156.
Peter Hübner / Christa Hübner: Sozialismus als soziale Frage. Sozialpolitik in der DDR und Polen 1968-1976. Mit einem Beitrag von Christoph Boyer zur Tschechoslowakei (= Zeithistorische Studien; Bd. 45), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2008, 520 S., ISBN 978-3-412-20203-3, EUR 59,90
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