Der Sammelband thematisiert die geschlechtsspezifische Strukturierung von Erinnerungskulturen und benennt damit ein Defizit der Forschung zu kollektivem Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Denn diese hat dem Ausschluss von Frauen aus der öffentlichen Erinnerungskultur des 19. Jahrhunderts bislang wenig Beachtung geschenkt. Erklärtes Ziel ist es demzufolge, die enge Verschränkung von gender und Erinnerung offenzulegen und zugleich methodische Ansätze für die Integration von spezifisch weiblichen Formen der Erinnerung aufzuzeigen. In den ersten beiden Abschnitten des Buches werden weibliche Allegorien in politischen Erinnerungskulturen sowie die Erinnerung an Krieg und Gewalt in Staat und Familie thematisiert. Der dritte bietet zwei Beiträge zu methodisch-theoretischen Überlegungen.
Maria Greever und Kees Ribbens beklagen in ihrem methodischen Beitrag die Unzulänglichkeit historischer Arbeiten, die nationale Erinnerungskultur allein anhand hegemonialer Diskurse untersuchen. Sie fordern in Anlehnung an Nancy Fraser [1], das gesamte Spektrum subalterner und hegemonialer Öffentlichkeiten und damit auch "counter narratives" (254) angemessen zu berücksichtigen. Für die Mehrzahl der Studien zu Erinnerung und Gedächtnis, so die Kritik, bleibe die Nation der zentrale Referenzpunkt. So werde ein männlicher weißer Erinnerungsdiskurs verstetigt und Diversität nicht angemessen berücksichtigt. Greever und Ribbens schlagen vor, Wulf Kansteiners Kritik der Gedächtnisforschung [2] aufzugreifen und die vielschichtigen Prozesse von Erinnerungsproduktion und -konsum sowie subversive, nicht intendierte Aneignungsformen zu berücksichtigen. Diese Herangehensweise ermögliche es, die geschlechtsspezifische Dimension ebenso angemessen zu berücksichtigen wie "subversive (re-)appropriations [3] of hegemonic memories." (259) Indem historische Subjekte nicht länger als passive Empfänger von Erinnerungskultur sondern als durchaus widerständig betrachtet werden, kann der Anteil marginalisierter Gruppen an der Erinnerungskultur besser berücksichtigt werden. Dennoch bleibt die Kanonisierung von Erinnerung als beständiger Exklusionsmodus bestehen. Den nationalen Kanon in seiner Funktion als Orientierungswissen können aus Sicht der Verfasserin und des Verfassers auch neuere Projekte zu multiperspektivischen Erinnerungsformen vermutlich nicht überwinden.
Diesem methodischen Ansatz tragen die Beiträge von Tiina Kinnunen, Anu Haiskanen sowie Helle Bjerg und Claudia Lenz beispielhaft Rechnung. Kinnunen untersucht die kollektive Erinnerung an die rechtskonservative Frauenvereinigung "Lotta Svärd" in Finnland, die nach der Niederlage gegen die Sowjetunion 1944 verboten wurde. Deren Mitglieder - "Lottas" genannt - waren im Krieg sowohl in der Verwundetenpflege und -versorgung als auch bei der Betreuung von Invaliden, Waisen und Flüchtlingen im Einsatz. Im hegemonialen Diskurs der Nachkriegszeit wurde die Existenz von "Lotta Svärd" zunächst verschwiegen, später wurden "Lottas" in Romanen als promisk und frivol dargestellt - ein Angriff auf die Ordnung des 'weißen' Finnland, die "Lotta Svärd" repräsentierte.
Die ehemaligen Mitglieder schwiegen über ihre Zugehörigkeit zu "Lotta Svärd", nur in der subalternen Gegenöffentlichkeit der Familie oder in privaten Netzwerken war ein Erinnern möglich. Nach dem Zerfall des Ostblocks und mit dem Aufkommen eines neuen finnischen Patriotismus änderte sich dies schlagartig: "Lotta Svärd" spielt auf dem umkämpften Feld der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg nun wieder eine zentrale Rolle und drängt andere Erinnerungsnarrative in den Hintergrund. Das aktuell dominierende Narrativ einer hart arbeitenden, moralisch gefestigten und unpolitischen "Lotta" sei symptomatisch für die Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg in Finnland, so Kinnunen.
Heiskanen zeigt, wie die kollektive Erinnerung an die 'erotische Fraternisierung' finnischer Frauen mit deutschen Soldaten und die konsequente Diffamierung dieser Beziehungen im finnischen Erinnerungsdiskurs der Nachkriegszeit ein Gegenbild zum nationalen Narrativ bildete und dieses so bestätigte. Während man Finnlands Zusammenarbeit mit der NS-Diktatur verschwieg, wurden und werden Frauen, die eine solche Beziehung eingegangen waren, stigmatisiert (219). Die Geschlechterordnung durchbrachen diese Frauen auf zweifache Weise: Indem sie ihre Körper deren eigentlichen 'Eigentümern' entzogen und indem sie eigenständige Entscheidungen trafen, etwa jene, ihren deutschen Liebhabern nach Abzug der Truppen zu folgen.
Bjerg und Lenz untersuchen an den Beispielen Dänemarks und Norwegens, welche Rolle die nationalen master narratives in der familiären Gedächtniskultur spielen. Bezugnehmend auf die Machtanalysen Michel Foucaults sowie Chantal Mouffes und Ernesto Laclaus [4] fragen sie danach, ob Frauen und Männern in der Familie gleichermaßen die Autorität zugestanden wird, Vergangenes zu erzählen. Zugleich untersuchen sie, wie Vergangenheitsnarrative die bestehende Geschlechterordnung reproduzieren und stützen. Am Beispiel einer dänischen Familie zeigen sie, wie den Erzählungen der Großmutter weit weniger Bedeutung zugeschrieben wird als jenen des Großvaters, obwohl diese das Kind ihrer im Widerstand tätigen Arbeitgeber retten musste. Besonders seitens der Enkelgeneration wird in beiden Fallbeispielen der Großmutter die Kompetenz abgesprochen, ein Urteil über 'die Geschichte' abgeben zu können. Begründet wird dies mit der eingeschränkten Perspektive der als Hausfrau oder Bäuerin tätigen Zeitzeugin. So wird die herrschende Geschlechterordnung nicht nur gestützt, sie dient auch als Argument, Frauen aus den master narratives auszuschließen. Gegen diese Deutung wehren sich die Zeitzeuginnen der Fallbeispiele nicht.
In einem weiteren Beitrag zur Methode kritisieren auch Sylvia Schraut und Sylvia Paletschek am Beispiel des mittlerweile verschiedentlich adaptierten Konzepts der lieux de mémoire die mangelnde Reflexion der männlich dominierten nationalen Erinnerungskulturen seitens der Forschung. Dieser Ausgangslage stellen beide ein Konzept eines gendersensiblen Begriffs von Erinnerungsräumen entgegen und entwerfen die Familie als möglichen Raum weiblicher Gegenerinnerung. Die Gefahr einer möglichen Essentialisierung durch das Postulat einer spezifisch weiblichen Erinnerung sprechen die Verfasserinnen an. Wie sie diese umgehen wollen, wird jedoch nicht deutlich. Bjerg und Lenz zufolge scheint die Familie zudem ein Ort zu sein, in dem weibliches Erinnern auf der Grundlage geschlechtsspezifischer Zuschreibungen marginalisiert wird. Ob es Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gelingen kann, Frauen in die Erinnerungskultur einzuschreiben, muss eine offene Frage bleiben.
Ob Frauen tatsächlich so radikal aus der nationalen Erinnerungskultur des 19. Jahrhunderts ausgeschlossen waren, wäre gerade mithilfe der angebotenen Perspektivwechsel noch einmal neu zu hinterfragen. Neuere Studien wie beispielsweise der von Ute Planert herausgegebene Band "Nation, Politik und Geschlecht" [5] weisen auf das Engagement von Frauen im nationalen Vereinswesen hin. Auch als Teilnehmerinnen und Mitgestalterinnen von Erinnerungsfeierlichkeiten waren Frauen in das kollektive Gedächtnis eingebunden. Schließlich dürfte das Einbeziehen von Unterhaltungsmedien die Arbeit von Frauen am nationalen Gedächtnis stärker sichtbar machen: Louise Mühlbachs historische Romane gehörten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den meistgelesenen in Leihbibliotheken; Henny Porten nahm als Filmproduzentin nicht unerheblichen Einfluss auf die Deutung Königin Luises zu Beginn der 1930er Jahre.
"The Gender of Memory" demonstriert - fast ein Vierteljahrhundert, nachdem Joan W. Scott so eindrücklich die Berücksichtigung dieser Kategorie in der allgemeinen Geschichtsschreibung gefordert hat [6] -, dass diese in der Forschung zu Erinnerungskulturen zwar noch am Anfang steht, dass sie jedoch ein komplexes Bild regionaler wie nationaler Erinnerungskultur zutage fördern wird. Erste Facetten dieses Bildes in europäischer Perspektive zu zeigen und zugleich mit ersten methodischen Überlegungen zu versehen, ist das Verdienst des Bandes.
Anmerkungen:
[1] Nancy Fraser: Rethinking the Public Sphere. A Contribution to the Actually Existing Democracy, in: Social Text 25&27 (1990), 56-91.
[2] Wulf Kansteiner: Finding Meaning in Memory. A Methodological Critique of Collective Memory Studies, in: History and Theory 41 (2002), 179-197.
[3] Dieser Begriff stammt von Michel de Certeau: The Practice of Everyday Life, Berkeley 1984.
[4] Michel Foucault: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978; Ernesto Laclau / Chantal Mouffe: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien 1991.
[5] Ute Planert (Hg.): Nation, Politik und Geschlecht. Frauenbewegung und Nationalismus in der Moderne, Göttingen 2002.
[6] Joan W. Scott: Gender. A Useful Category of Historical Analysis, in: American Historical Review 91 (1986), 1053-1075.
Sylvia Paletschek / Sylvia Schraut (eds.): The Gender of Memory. Cultures of Remembrance in Nineteenth- and Twentieth-Century Europe, Frankfurt/M.: Campus 2008, 287 S., ISBN 978-3-593-38549-5, EUR 34,90
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