Kaum ein polnisch-jüdisches Kind überlebte den Holocaust. Unmittelbar nach Beendigung des Krieges begannen Interviewer der Jüdischen Historischen Kommission in Polen damit, überlebende Kinder und Jugendliche zu befragen. Im Gegensatz zu Befragungen, die teilweise Jahrzehnte später durchgeführt wurden, zeichnen sich die Aussagen durch zeitliche Nähe zu den Ereignissen sowie durch die besondere, relativ vorurteilsfreie kindliche beziehungsweise jugendliche Perspektive aus.
Der Band [1] enthält neben der ausführlichen Einleitung und den Anhängen erstmals in deutscher Übersetzung 55 Interviews in alphabetischer Reihenfolge aus einem Gesamtbestand von 429 Berichten von Kindern und Jugendlichen der Jahrgänge 1929 bis 1939. Einleitend werden die Überlebenswege der Kinder charakterisiert, anschließend die Entstehung der Interviews in ihrem institutionellen Rahmen beschrieben. Grundlage bildete ein eigens entwickelter Interviewleitfaden, der im Anhang auch in Übersetzung abgedruckt ist. Hier wird auch auf den Einfluss der Interviewer (Ziel war das "durchgängige Erzählen") und die Grenzen der Quellengattung eingegangen. Dabei wird ebenso die Geschichte der Befragungen von Kindern in der unmittelbaren Nachkriegszeit sowie die frühe Publikationsgeschichte von Kinderberichten abgedeckt.
Bei der Betrachtung des Gesamtbestands fällt auf, dass der Nordosten der polnischen Republik gar nicht (Woiwodschaften Nowogródek und Polesie) beziehungsweise kaum vertreten ist (Woiwodschaften Bialystok und Wilna). Ansonsten sind alle wichtigen Gebiete mit einem bedeutenden jüdischen Bevölkerungsanteil und gemäß der Präsenz im Gesamtbestand der Protokolle recht repräsentativ berücksichtigt, wodurch sich eine starke Vertretung der Großstadt Warschau ergibt.
In den Protokollen trifft der Leser auf sehr unterschiedliche (Über-) Lebenswege - in Gettos und Lagern, auf der "arischen Seite" mit einer angenommenen nichtjüdischen Identität, in Kellern bei Polen versteckt, in jüdischen Waldlagern, ja sogar als Deutsche getarnt! Plastisch werden die schwierigen Bedingungen, unter denen ein falsches Wort den Tod bedeuten konnte, dem Leser nähergebracht. Teilweise mussten diese Kinder den gewaltsamen Tod von engen Familienmitgliedern selbst unmittelbar miterleben, meist konnten sie selbst nur durch eine Kette von äußerst glücklichen Umständen überleben. Dabei kommt es immer wieder zu verschiedensten, in anderen Quellen nur schwer zu findenden Einblicken in den Alltag in dieser extremen Situation. So berichtet Seweryn Dobrecki (geboren 1936) davon, wie er als Pole getarnt mit polnischen Kindern beim "Judenspielen" dem bettelnden "Judenmädchen" ein Stück Brot verweigern muss, um keine Zweifel über seine Tarnidentität aufkommen zu lassen. Sehr stark konnte besonders das Verhältnis zu polnischen und ukrainischen "Beherbergern" schwanken; in mehreren Berichten ist sogar von (in diesen Fällen) gescheiterten Tötungsversuchen der von Angst belasteten "Wirte" die Rede. Daneben sind die Berichte auch Quellen für die unmittelbare Nachkriegszeit, in der die Kinder oft auf abenteuerlichen Wegen in Heime, auch in den neuen polnischen Westgebieten, kamen.
Obwohl die Quellen im Rahmen eines Interviewvorhabens entstanden, differiert der Charakter der Texte doch stark, sodass dem Leser sehr unterschiedliche Texte präsentiert werden. Neben kurzen telegrammartigen Zusammenfassungen stehen lange Berichte, neben Nacherzählungen in der dritten Person durch den Interviewer (insbesondere bei sehr jungen Kindern) stehen gänzlich selbst vom Kind konzipierte Berichte. Nützliche Anhänge wie ein ausführliches, die Einzeldokumentkommentierung ergänzendes Glossar, ausgewählte Faksimiles sowie ein tief greifendes Orts- und Sachregister runden den Band ab.
Die Quellenauswahl erlaubt es, sich vom Schicksal der schutzlosesten Opfer des systematischen Massenmordprogramms der Nationalsozialisten anhand von eindrücklichen Zeugenaussagen der wenigen überlebenden jüdischen Kinder ein Bild zu machen. Dabei erhält der Leser die Gelegenheit, sich mit einigen der wichtigsten geografischen Räume des Holocaust in Ostmitteleuropa zu beschäftigen, deren Geschichte im deutschen Sprachraum in der Allgemeinheit noch wenig bekannt ist. Der vergleichsweise günstige Preis sowie die angekündigten zusätzlichen pädagogischen Begleitmaterialien lassen den Band neben der Nutzung durch das Fach- und das allgemeine, historisch interessierte Publikum gerade für den Gebrauch in allen Bildungsbereichen, darunter insbesondere in Schulen, besonders geeignet erscheinen.
Anmerkung:
[1] Er entstand unter Mitarbeit von Edyta Kurek, Jürgen Hensel, Dennis Riffel und Michaela Christ, als (praktisch immer überaus kundige, den jeweiligen Duktus erhaltende) Übersetzer der meist, aber nicht ausschließlich polnischsprachigen Quellen wirkten Jürgen Hensel, Herbert Ulrich und Maciej Wójcicki. Getragen wurde die Veröffentlichung von Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. gemeinsam mit dem Jüdischen Historischen Institut in Warschau und der Universität Leipzig, gefördert wurde sie von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft.
Feliks Tych / Alfons Kenkmann / Elisabeth Kohlhaas / Andreas Eberhardt (Hgg.): Kinder über den Holocaust. Frühe Zeugnisse 1944-1948. Interviewprotokolle der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission in Polen, Berlin: Metropol 2008, 327 S., ISBN 978-3-938690-08-6, EUR 19,00
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