Kaum ein Zusammenhang hat die Kultur- und Geisteswissenschaften der letzten zweieinhalb Jahrzehnte mehr umgetrieben als die vermeintliche Auflösung der Grenzen von Schein und Sein, von Tiefe und Oberfläche respektive Tiefe und Oberflächlichkeit. Der Band "Mehr als Schein. Ästhetik der Oberfläche in Film, Kunst, Literatur und Theater" knüpft an derartige postmoderne Oberflächendiskurse an, differenziert diese jedoch hinsichtlich ihrer historischen Zuordnung. In ihrem programmatischen Einleitungsartikel geben Isabelle Stauffer und Ursula von Keitz einen selektiven Überblick über Theoreme der Oberfläche in Literaturtheorie, Medientheorie und Philosophie und zeigen auf dieser Grundlage, dass der Begriff der Oberfläche keineswegs nur zur Charakterisierung der Postmoderne im Sinn einer historischen Epoche dienen kann. Zudem biete die Auseinandersetzung mit der Oberfläche eine "Gegenposition zu hermeneutischen Deutungsmodellen", die diese allerdings nicht völlig ersetzen könne (28). Der Band gliedert sich in vier Hauptabschnitte, die sowohl unterschiedliche Oberflächenaspekte als auch jeweils verschiedenartige Theorieprobleme in den Vordergrund rücken. Wenngleich die Zuordnung nicht in jedem Fall zwingend erscheint, so erlaubt es dieser Aufbau doch, Beiträge aus Filmwissenschaft, Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft, die sich mit ganz unterschiedlichem historischen Material beschäftigen, in einen überzeugenden Vergleichsrahmen zu setzen. Interessante Querverbindungen ergeben sich allerdings häufig gerade auch über die Sektionen hinweg. So demonstriert Kurt W. Forster in seinem Aufsatz zu "Oberflächenspannung in der Architektur", wie architektonische und fotografische Oberflächen in Bauten des 20. und 21. Jahrhunderts - von Mies van der Rohe bis Herzog & de Meuron - in vielfache Wechselbeziehungen treten. Wie ein konzeptuelles und historisches Gegenstück zu Forsters These der "reaktiven Oberflächen" erscheint dann in einer anderen Sektion Marie Theres Stauffers Untersuchung der Verwendung von Spiegeln im architektonischen Zusammenhang von François Cuvilliés Jagdschlösschen "Amalienburg".
Methodisch weichen die versammelten Artikel oftmals stark voneinander ab. Das ist jedoch nicht als eine editorische Inkonsequenz, sondern vielmehr als ein Vorzug zu sehen, führt der Band doch ein breites Spektrum an Perspektiven vor, das Möglichkeiten und Grenzen unterschiedlicher Herangehensweisen aufzeigt. Einen Pol des Verhältnisses von Oberfläche und Tiefe markiert die Auffassung einer dialektischen Beziehung, von der Victor I. Stoichita in seiner aufschlussreichen Neuinterpretation von Michelangelos Haut-Selbstporträts im "Jüngsten Gericht" in der Sixtinischen Kapelle ausgeht. Stoichita zeigt, wie die Vorstellung der unversehrten körperlichen Hülle aus dem Heiligenkult in den entstehenden Künstlerkult einfließt und die Oberfläche des Gemäldes auf eine tiefere Dimension des Werkzusammenhangs verweist. Demgegenüber konstatiert Martina Wagner-Egelhaaf in ihrer Studie zu Formen rhetorischer Ausschmückung - selbst in der Metapher vom "Glanz der Rede" gefasst -, dass im Kontext moderner Episteme "Form und Inhalt gar nicht mehr trennbar sind" und damit auch "die Opposition von Oberfläche und Tiefe ins Schillern" gerät (252). Isabelle Stauffer schlägt eine ähnliche Richtung ein, wenn sie darstellt, wie die Figurendarstellung in Romanen von Heinrich Mann und Franziska zu Reventlow den Dualismus von Innen und Außen unterläuft. Auch Valeska von Rosens faszinierender Artikel zu Giovanni Boldonis Porträts großbürgerlicher oder adeliger Damen betrachtet materielle Oberfläche und metaphorische Oberflächlichkeit gemeinsam und zeigt zugleich die komplexen sozio-kulturellen Bezüge der ganz auf die Oberflächen von Malerei und Kleidung konzentrierten Porträts auf, die als entpsychologisierte Hüllen fungieren und gerade daraus ihre Signifikanz gewinnen.
Nicht zufällig liegt mit nicht ganz der Hälfte der Beiträge ein eindeutiger thematischer Schwerpunkt des Bandes auf Untersuchungen zum Film. Schon früh wurden die Begriffe der Oberflächendarstellung und der inhaltlichen Oberflächlichkeit in Diskursen zum Film aufgebracht, zumeist, aber nicht ausschließlich, als Kritik am Medium. Jan Sahli geht in seinem Beitrag den erstaunlicherweise bislang kaum untersuchten Zusammenhängen zwischen medienübergreifenden Avantgardebewegungen der 1920er-Jahre und dem Weimarer Kino nach. Er demonstriert eindrücklich, dass die an die Fotografie der Neuen Sachlichkeit anknüpfende Aufmerksamkeit auf scheinbar nebensächliche Oberflächendetails, die in Filmen wie BERLIN ALEXANDERPLATZ (1931) oder MENSCHEN AM SONNTAG (1929) den Zusammenhalt der Narration teilweise unterminiert, gesondert zu betrachten ist von Moholy-Nagys unter dem Leitsatz des Neuen Sehens entstandenen Filmen mit ihrer Akzentuierung von Oberflächentexturen und ungewöhnlichen Blickwinkeln. Wie Sahli dient der Oberflächenbegriff auch Ursula von Keitz als Ausgangspunkt für eine differenzierte filmhistorische Studie. Aufbauend auf einer Beschreibung der Problematik des Tonraums und der technisch bedingten akustischen Flachheit im frühen Tonfilm erörtert von Keitz die Implikationen der Stimmreproduktion für Formen des filmischen Realismus sowie für Konzepte von Geschlecht und Körperlichkeit. Diese historischen Betrachtungen werden ergänzt durch typologische Untersuchungen, wie Philip Brunners emotionstheoretische Ausführungen zur Großaufnahme des Gesichts und Tereza Smids Studie zu Schärfe und Unschärfe im Film. Smid untermauert ihre fünf grundlegenden Kategorien der als Transition aufgefassten Schärfeverlagerung - von der vereinnahmenden "Emphase" bis zur selbstreferentiellen "Projektionsfläche" - mit einem historischen Überblick über die Unschärfe im Film. Problematisch erscheint allerdings, dass Smid Effekte der Kontrastreduzierung, wie sie durch Gazeschleier oder Filter hervorgerufen werden, nicht von optischer Unschärfe unterscheidet. Zwar werden diese Effekte im Englischen als "soft focus" bezeichnet, doch divergieren sie sowohl technisch als auch in ihrer Erscheinung prinzipiell von der durch die Fokusverlagerung hervorgebrachten Unschärfe ("out of focus"). Einen eindrucksvollen theoriegeschichtlichen Bogen schlägt Margit Tröhler in ihrem Artikel zu einer neueren Spielfilmtendenz, die sie mit dem Begriff des "expressiven ethnographischen Realismus" belegt. Ausgehend von generellen Überlegungen zum Dispositiv des Kinos argumentiert sie, dass die Figuren in diesen Filmen als "Phänomene der Präsenz" jenseits von Psychologisierungen "ein bewegliches Denken" verkörpern (151). So klar und einleuchtend Tröhlers Ausführungen für sich genommen sind, so diskussionsbedürftig erscheint allerdings die Annahme eines nicht-begrifflichen Denkens.
Bei aller oftmals trennscharfen und profunden Auseinandersetzung der Artikel des Bandes mit Oberflächenphänomen fällt auf, dass das Konzept der ästhetischen Grenze, innerhalb dessen gerade Entgrenzungstendenzen differenziert dargestellt werden könnten, kaum explizit behandelt wird. Ein weiterer Bereich, der im Band überhaupt nicht zur Kenntnis genommen wird, ist die an Wittgensteins Spätphilosophie anknüpfende Forschung zur Form-Inhalt-Dichotomie, die eine vielversprechende Alternative zu dualistischen wie dekonstruktivistischen Ansätzen darstellt. [1] Dessen ungeachtet versammelt "Mehr als Schein" eine Fülle historischer und theoretischer Einsichten zu Phänomen und Konzept der Oberfläche, die unmittelbar - wie der Band eindringlich demonstriert - in bedeutsame Problemstellungen nicht nur der Postmoderne hineinführen und die produktive Ansatzpunkte für weitere Forschungen bieten.
Anmerkung:
[1] Neuere Studien dazu: Malcolm Turvey: Doubting Vision. Film and the Revelationist Tradition, Oxford 2008; Peter B. Lewis (Hg.): Wittgenstein. Aesthetics and Philosophy, Aldershot 2004; Richard Allen / Malcolm Turvey (Hgg.): Wittgenstein, Theory and the Arts, London 2001.
Hans-Georg von Arburg / Philipp Brunner / Christa M. Haeseli u.a. (Hgg.): Mehr als Schein. Ästhetik der Oberfläche in Film, Kunst, Literatur und Theater, Berlin: Diaphanes Verlag 2008, 304 S., 19 Tafeln, ISBN 978-3-03734-006-6, EUR 29,90
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