sehepunkte 9 (2009), Nr. 12

Lorenz Erren: 'Selbstkritik' und Schuldbekenntnis

In der überarbeiteten Fassung seiner 2003 an der Universität Tübingen verfassten Dissertation untersucht Lorenz Erren die "Selbstkritik" und "Schuldbekenntnisse" als zwei zentrale Elemente des stalinistischen Kommunikationssystems. Die Bedeutung und Funktion beider Praktiken haben die internationale Forschung zu verschiedenen Deutungsweisen und Kontroversen veranlasst. Man sah darin einen Kontrollmechanismus der sowjetischen Untertanen, einen quasi religiösen Reinigungsakt der bolschewistischen Glaubensgemeinschaft, ein Unterwerfungs- und Disziplinierungsritual, eine der Erlösungsreligion inhärente Prüfinstanz und institutionalisierte Praxis der "Seelen-Hermeneutik". Eine umfassende, einen breiten Quellenkomplex aus den russischen Archiven heranziehende Untersuchung fehlte allerdings bis jetzt. In theoretischer Hinsicht stützt sich Erren auf die von Michel Foucault ausgearbeiteten Modelle der Sozialkontrolle und des panoptischen Überwachungsstaates.

Neu ist die These des Autors, dass "Selbstkritik" und "Schuldbekenntnis" vom stalinistischen Ordnungsentwurf und Wertesystem hervorgebracht wurden und als genuine und originelle Phänomene des sowjetischen Herrschaftsdiskurses anzusehen sind. Das Apriori eines "präexistenten russischen, christlichen, intelligenzlerischen oder bolschewistischen kulturellen Code[s]" lehnt Erren ab (25). Ihm zufolge entstanden beide Praktiken "entlang einer Kette von Präzedenzfällen" (28), sie bildeten sich im "postrevolutionäre[n] Vakuum an gemeinsamen Werten und politischer Legitimation" heraus (25).

Im ersten Kapitel behandelt Erren die Entstehung der sowjetischen Schuldbekenntnisrituale. Eine wichtige Zäsur stellte hierbei das 1921 auf dem zehnten Parteitag der sowjetischen KP eingeführte Fraktionsverbot dar, das das Immunitätsprinzip praktisch aufhob. Jede abweichende Meinung der Minderheit konnte von der organisierten Mehrheit als Versuch der Fraktionsbildung interpretiert werden. Die Mehrheit selbst wurde als Geisel ihrer Anführer behandelt. Solche tatsächlichen und vermeintlichen Konflikte konnten nur durch Unterwerfung und Reuebekenntnisse der Minderheit beigelegt werden. Der Sieg über die linke Opposition 1927 war für die Kultivierung und Ausweitung der Praktiken von Schuldbekenntnissen und Reueritualen bedeutend: Er führte zur massiven Säuberung an der Parteibasis. Wer aber in die Partei zurückfinden wollte, hatte Distanzierungs- und Schuldbekenntnisse zu leisten, die zum Jahreswechsel 1927/1928 den Charakter eines Massenphänomens annahmen.

Die Kultur der Schuldbekenntnisse wurde in der Auseinandersetzung mit der rechten Opposition 1929 durch eine neue Dimension erweitert: Fehlereingeständnisse dienten als Unterwerfungsritual, das "ein neues, absolut verstandenes Herrschaftsverhältnis" produzierte und den Parteifunktionären eine als bolschewistische Tugend deklarierte Untertanenmentalität "des loyalen Befehlempfängers" einimpfte (92). Für die führenden Parteigremien hatte diese Entwicklung fatale Folgen: Sie wurden "zur kollektiven Geisel degradiert", in steuerbare, der Willkür Stalins vollkommen ausgelieferte Abstimmungskörper verwandelt, deren Mitglieder auf ihre künftige, martialische Rolle der "Täter und Opfer gleichermaßen" vorbereitet wurden (91).

Im zweiten Kapitel werden Ursprünge, Praktiken und Funktionen der "Kritik und Selbstkritik" untersucht. Die Losung wurde 1928 lanciert und stellte einen Ersatz für die konstruktive Meinungsbildung und die Austragung von Konflikten dar. Die Selbstkritik diente als Selbstbeobachtungsmodus der Gesellschaft, in dem dringende Probleme der Sowjetwirklichkeit wahrgenommen, diskutiert und gelöst werden sollten (Leistungssteigerung). Sie hob bestehende Rang- und Hierarchiegrenzen auf, gab einer breiten (parteilosen) Bevölkerungsschicht eine Stimme und trug wesentlich zur Etablierung eines "panoptischen" Überwachungssystems im Stalinismus bei (Disziplinierungsfunktion). Überdies konnten Protestpotentiale und Unzufriedenheit der loyalen Sowjetbevölkerung durch die "Selbstkritik" kanalisiert und unter Kontrolle gebracht werden. Erren weist überzeugend nach, dass die "Selbstkritik" und die Praxis der "Schuldbekenntnisse" nicht verwechselt werden dürfen (wie es in der Forschung oft geschieht). Sie stellen vielmehr zwei verschiedene Phänomene im stalinistischen Kommunikationssystem dar, die ihre eigenen Ursprünge und Funktionen haben. In ihren Anfängen verlangte die "Selbstkritik" nicht nach Schuldbekenntnissen und trug in sich keine sozialpädagogischen oder erzieherischen Momente. Der pädagogische Anspruch kam später, als die "Selbstkritik" sich in "eine Technik panoptischer Sozialkontrolle" verwandelte und zu einer Rettungsstrategie wurde, "sich aus der Gefahrenzone des eliminatorischen Abstimmungskörpers in die Sphäre der scheinbar versöhnlichen [...] samokritika-Öffentlichkeit zu flüchten" (133).

Im dritten Kapitel untersucht Erren am Beispiel von Literaten und Akademikern, wie die Praxis der Schuldbekenntnisse in den "Selbstkritik"-Diskurs integriert wurde. Im intellektuellen Milieu wurde bereits 1929 eine semantische Neuerung beobachtet: Der Begriff der "Selbstkritik" rückte in die Nähe des individuellen Fehlereingeständnisses. Besonders "junge Eiferer", eine aufstrebende Generation der militant eingestellten jungen Stalinisten, trieben diese Fusion durch ihren Macht- und Einflussanspruch voran. In der Atmosphäre der Hetzkampagnen wurden in den "Selbstkritik"-Debatten nun Gehorsam (Untertanenloyalität) und Unterwerfung (Fehlereingeständnisse und Gesinnungswandel) erwartet.

Im vierten Kapitel wird die Janusköpfigkeit der stalinistischen Öffentlichkeit (1931-1953) thematisiert: Sie oszillierte zwischen einem "zur Geisel gemachte(n) politische[n] Abstimmungskörper" und einer pädagogischen Anstalt. Erren spricht von "zwei Bewußtseinszustände[n]", "den multiplen Identitäten eines Schizophreniekranken" (180). Nach dem Großen Terror 1937/1938 dominierte eindeutig die erzieherische Funktion der Selbstkritik, die aus der Gemeinschaft der Sowjetmenschen eine "patriarchalische Großfamilie" formte und sie als unmündige, der Loyalitätstugend verpflichtete Schüler behandelte.

Im fünften Kapitel geht es um die Schuldbekenntnisse vor Gericht, denen die Bedeutung einer politischen Kapitulation zukam. Sie stellten reine Inszenierungen dar, hatten mit dem modernen Rechtsverständnis nichts gemeinsam und erinnerten "an Vorbilder aus der Inquisition und dem Mittelalter" (359). "In der stalinistischen Dämonologie" konnten Buße und Reue der Angeklagten keine Vergebung erwarten, eine "ontologische" Schuld der Stalin-Feinde war nicht zu tilgen (369).

Lorenz Erren kommt das Verdienst zu, Begriffe "Selbstkritik" und "Schuldbekenntnis" in ihrer Genese, semantischen Entfaltung und als identitätsstiftende und machtgenerierende Praktiken in verschiedenen Zeiträumen und Milieus zu analysieren. Seine Unterscheidung zwischen dem politischen Abstimmungskörper als einer eliminatorischen Kampfgemeinschaft und der öffentlichen Selbstkritik als Besserungs- und Erziehungsinstanz ist wegweisend. Künftige Untersuchungen werden nicht nur dieses Erklärungsmodell, sondern auch die von Lorenz Erren auf einem hohen Reflexionsniveau geleisteten Detailanalysen der sowjetischen "Selbstkritik"- und Schuldbekenntnispraktiken berücksichtigen müssen.

Rezension über:

Lorenz Erren: 'Selbstkritik' und Schuldbekenntnis. Kommunikation und Herrschaft unter Stalin (1917-1953) (= Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit; Bd. 19), München: Oldenbourg 2008, 405 S., ISBN 978-3-486-57971-0, EUR 49,80

Rezension von:
Alexander R. Schejngeit
Universität Konstanz
Empfohlene Zitierweise:
Alexander R. Schejngeit: Rezension von: Lorenz Erren: 'Selbstkritik' und Schuldbekenntnis. Kommunikation und Herrschaft unter Stalin (1917-1953), München: Oldenbourg 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 12 [15.12.2009], URL: https://www.sehepunkte.de/2009/12/12718.html


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