Die Säkularisierung des Hebräischen und seine Transformation von einer jahrhundertelang überwiegend auf den religiös-liturgischen Bereich beschränkten Sprache in eine Sprache der Gegenwart zählte zu den zentralen Projekten der jüdischen Aufklärer [Maskilim] im 18. Jahrhundert. Mit ihren mannigfaltigen Implikationen für Identität, nationale sowie bürgerliche Selbstvergewisserung und Selbstbestimmung wies die Sprachenfrage in der jüdischen wie auch nichtjüdischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts weit über die unmittelbare Beschäftigung mit der Philologie hinaus und wurde zum Brennpunkt zahlreicher Debatten und Polemiken.
So hatte etwa der Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze im sogenannten Fragmentenstreit, einer der bedeutendsten theologischen Debatten der Zeit, Gotthold Ephraim Lessing nicht nur den häretischen Inhalt seiner Schriften vorgeworfen, sondern ebenso die Tatsache, dass er selbige auf Deutsch publiziert und damit einem ungelehrten Publikum zugänglich gemacht hatte. Bekanntermaßen hatte Lessing auf das über ihn verhängte Publikationsverbot für religiöse Themen mit seinem Theaterstück 'Nathan der Weise' reagiert und den strittigen Inhalten damit sowohl eine breite Öffentlichkeit verschafft als auch eine den Anlass transzendierende Form gegeben.
Dem gelehrten Latein, das dem religiösen Establishment zur Abgrenzung gegen Uneingeweihte diente, hatte Lessing im Fragmentenstreit die deutsche Volkssprache entgegengesetzt; oder, anders ausgedrückt, der traditionellen Diglossie stand die nationale Forderung nach Einsprachigkeit gegenüber. Das Exempel illustriert gleichzeitig eindrücklich die Unterschiede zwischen deutscher und jüdischer Aufklärung [Haskalah]. Während die deutsche Aufklärung auf eine die gesamte Nation vereinigende Einsprachigkeit abzielte, ging es den Maskilim um die Transformation jüdischer Zweisprachigkeit und nicht um deren Eliminierung. Diesem faszinierenden Transformationsprozess spürt Andrea Schatz in ihrer Dissertationsschrift nach.
Angesichts der Fülle von bearbeitetem Material und behandelten Themen mutet der von Schatz gewählte Untertitel allerdings zu bescheiden an. Die in drei Teile untergliederte Arbeit (I. Heilige Sprache; II. Ursprache; III. In der Zerstreuung: Sprache und Nation) beschränkt sich weder auf den Säkularisierungsaspekt noch auf das 18. Jahrhundert. Ausgehend von der spezifisch christlichen Konnotation des Säkularisierungsbegriffes untersucht Schatz zunächst die wesentlich differenzierteren Bedeutungen der Gegensatzpaare religiös - säkular und heilig - profan im jüdischen Diskurs. Schließlich übernimmt sie jedoch Robert Bonfils [1] und anderer FrühneuzeithistorikerInnen Schlussfolgerung, dass Säkularisierung eben da stattfand, "wo die komplexeren jüdischen Strukturen den eher dualistischen Modellen der christlichen Umgebung angeglichen wurden" (24). Alternative jüdische Wege in die Moderne fanden nach vielversprechenden Anfängen (v.a. in Italien) dagegen keine Fortsetzung.
Diese Entwicklung legt die Präponderanz von oktroyierten, gesellschaftspolitischen Faktoren nahe, die Schatz im Gefolge von Talal Asad [2] aber nicht als stabile Größen, sondern als Ergebnis stetiger gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse begreift. Als Teilhaber an jenen Aushandlungsprozessen hätten sich Juden trotz des Anpassungsdruckes in der Moderne einen durchaus eigenständigen Handlungsbereich bewahrt. So arrangierten sich die Maskilim zwar mit der Forderung des modernen Staates nach Konfessionalisierung der jüdischen Religion und Assimilation an die bürgerliche Kultur, etablierten aber gleichzeitig das Hebräische als Sprache der jüdischen Nation, die der sozio-kulturellen Selbstvergewisserung diente. Diese ambivalente Haltung wurde durch die spezielle Qualität des Hebräischen ermöglicht, das trotz Säkularisierung stets an die Religion rückgekoppelt blieb.
Wenn Schatz nach den Möglichkeiten und Voraussetzungen für die Umwandlung des Hebräischen von einer 'heiligen' in eine 'moderne' Sprache durch die Maskilim fragt, geht sie also zu Recht weiter in die Vergangenheit zurück. Bei Maimonides, dem unangefochtenen Helden der Haskalah, und seinem spanischen Landsmann Yehuda ha-Levi findet sie zwei Schlüsselerzählungen zur 'Heiligkeit' der hebräischen Sprache, deren unterschiedliche Interpretationen ihr im Weiteren als Maßstab und Leitfaden für die sich verändernde Einstellung zum Hebräischen vom spanischen Mittelalter bis zum Ende des 18. Jahrhunderts dienen.
Yehuda ha-Levi sah im Hebräischen zwar die (von Gott) ausgezeichnete Sprache, empfand die Zweisprachigkeit des Exils jedoch als kulturellen Gewinn. Bei Maimonides dagegen herrscht das Gefühl des Verlustes vor. Die mit dem Exildasein verknüpfte Mehrsprachigkeit führte zum Verfall der eigenen Sprache und damit zur Unfähigkeit, sich differenziert auszudrücken. Die hebräische Sprache wird somit gleichzeitig zum Emblem der Differenzierung wie auch der Differenz von jüdischer Religion (und Kultur). 'Distinktion' und 'Differenz' sind also die Pole, zwischen denen Schatz ihre spannende Geschichte der hebräischen Sprache ansiedelt.
Detailreich und anhand unzähliger Zitate analysiert Schatz das sich wandelnde Verhältnis zwischen heiliger Sprache und (jiddischer) Umgangssprache, religiöse sowie sprachphilosophische Theorien zu Entstehung und Entwicklung des Hebräischen, die sich verändernde Rolle der Grammatik, das wachsende Selbstbewusstsein der Grammatiker und schließlich die diversen Versuche und Möglichkeiten zur Spracherneuerung, die im Projekt der Haskalah zusammenliefen, innerhalb dessen die jüdische Nation Gott die Vorherrschaft über die Sprache abgerungen hatte.
Die verschiedenen Themenfelder werden in den Werken aller bedeutenden Autoren der Frühen Neuzeit aufgesucht, diskursiv verbunden und immer wieder auf die Ausgangstexte von Maimonides und Yehuda ha-Levi bezogen. In langen Zitaten, deren Übersetzung ins Deutsche Schatzens ausgezeichnete Sprachbeherrschung beweist (allerdings auch auf unterschiedliche Bearbeitungsphasen schließen lässt), wird eine Fülle von Originaldokumenten - viele davon erstmals in deutscher Übersetzung - präsentiert.
So interessant und oft brillant formuliert diese philologische Analyse sein mag, ist es doch bedauerlich, dass Schatz den in der Einleitung formulierten Anspruch auf Verortung ihrer Studie im (kultur)historischen Diskurs kaum einzulösen vermag. Tatsächlich bleibt die Einleitung das einzige Kapitel, in dem historische Ansätze und Theorien aufgegriffen und diskutiert werden. Und auch hierbei tritt Schatzens philologische Orientierung deutlich zutage. Philologische Termini werden unreflektiert für historische Phänomene übernommen und anstelle von reflektierten Synthesen werden die verschiedenen Theorien anhand von langen Originalzitaten präsentiert. So als fürchte Schatz, die Meinung der Autoren durch interpretativen Eingriff zu verfälschen.
"Jede Übersetzung vergrößert den Abstand zwischen Namen und Ding, vermehrt die Ungenauigkeit und öffnet dem Irrtum Tür und Tor" (121), interpretiert Schatz Israel Zamośćs Kommentar zu Yehuda ha-Levi. So sehr diese Angst vor dem Irrtum Schatzens historische Analyse behindert, beweist sie in ihrer philologischen Arbeit, dass Übersetzungen auch Türen zu öffnen vermögen. "Sprache in der Zerstreuung" bietet daher nicht nur eine höchst lohnenswerte, sondern dank Schatzens rhetorischem Talent auch eine vergnügliche Lektüre.
Anmerkungen:
[1] Robert Bonfil: Jewish Life in Renaissance Italy, Berkeley 1994.
[2] Talal Asad: Formations of the Secular. Christianity, Islam, Modernity, Stanford 2003.
Andrea Schatz: Sprache in der Zerstreuung. Die Säkularisierung des Hebräischen im 18. Jahrhundert (= Jüdische Religion, Geschichte und Kultur; Bd. 2), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, 304 S., ISBN 978-3-525-56991-7, EUR 49,90
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