Dieser Band ist in mehrfacher Hinsicht bedeutsam und innovativ. Er unterstreicht die Chancen einer internationalen Geschichte, die sich im Generationenabstand von der Gegenwart bewegt. Dabei ist es erstaunlich, wie viel mittlerweile bereits aus den diversen Archiven aus Ost und West an Quellen erschlossen werden kann, auch wenn herkömmliche Materialien wie Memoiren gleichermaßen neue Dimensionen unterstreichen wie durch Primärquellen gewonnene unterstützen. Besonders wichtig ist hier, dass die früher so schwer zu schreibende "Ostblock"-Geschichte nunmehr inklusive der sowjetischen als Teil der internationalen Bemühungen zumeist multiarchivischer und multinationaler Ansätze gesehen werden kann.
Damit reiht er sich ein in wohl insgesamt mehr als ein halbes Dutzend vorangegangener und wohl noch zu erwartender ähnlicher Bände [1], die einen "Wanderzirkus" wechselnder innovativer Forscher seit geraumer Zeit durch die Lande schicken und danach eine Auswahl dieser Vorträge zum Druck bringen. Das ist in manchem zentriert um das Washingtoner Woodrow Wilson Center mit seinem Cold War International History Program; gerade dieser Band zeigt jedoch durch viele italienische Beiträge die wichtige Rolle des entsprechenden Zentrums dieses Landes.
Der Band besticht ferner durch eine Herangehensweise, die militärische, wirtschaftliche, ideologische Momente sektoral in den Blick nimmt. Der Fokus liegt auf der intereuropäischen Szene dieser Phase des Ost-West-Konflikts, die transatlantische Perspektive eingeschlossen. Auch wenn der hier thematisierte neue Kalte Krieg wichtige außereuropäische Dimensionen u.a. von Afghanistan bis Afrika hatte, wird doch hier ein einleuchtender Ausschnitt geboten. Die dem Band zugrunde liegende Konferenz von 2006 hatte offenbar auch diese Fragen thematisiert, so dass man sich einen zweiten parallelen Band gut denken könnte.
Der Ost-West-Konflikt wird hier auch an Hand der beiden Supermächte vorgeführt, aber in den insgesamt 19 Beiträgen werden auch kleinere Staaten in Ost und West untersucht, sowie gelegentlich gesellschaftliche Gruppe einbezogen. Allerdings wird die große Frage der Protestbewegungen in diesem Jahrzehnt nicht gesondert behandelt, wohl aber die Menschenrechtsbewegungen in der UDSSR und im Ostblock nach Helsinki (Savranskaja). Regierungshandeln und damit eine erweiterte Diplomatiegeschichte dominiert, jedoch werden auch die ideologischen Faktoren, zumal Eurokommunismus in zwei Beiträgen (Fasanaro und Basosi/Bernardini) und die Sozialistische Internationale (Rother) zum Thema gemacht. Ein recht starkes Gewicht wird einleuchtend den militärischen Planungen im Westen, aber auch im Osten eingeräumt (acht Aufsätze), und dankenswerterweise wird auch die ökonomische Komponente einbezogen, wobei von den vier Beiträgen zwei der innerwestlichen Politik gewidmet sind, aber die Ost-West-Wirtschaftsdiplomatie als solche (Lippert) sowie die Rolle der polnischen Krise auf die Wirtschaft Rumäniens (Opris) kommen gleichermaßen vor.
Es ist wenig sinnvoll, jeden der 19 Beiträge einzeln vorzustellen. Nur ein Schwerpunkt im Lichte der jüngeren Debatten sei angedeutet. Nuti selbst benennt die Zeit bereits im Titel eine Krise der Detente, gebraucht in seiner sehr reflektierten Einleitung aber auch synonym den Begriff einer neuen Phase des Kalten Krieges (1). Damit geht es weniger um die Perzeption in den Gesellschaften, sondern um die der "ruling classes". Hier wird in mehreren Beiträgen die Intensität der Wahrnehmung von Gefahren durch die andere Seite deutlich, aber auch an anderer Stelle die durchgehenden Bestrebungen nach Kooperation und Ausgleich.
Die derzeit intensiv diskutierte Frage: fand hier ein zweiter (oder - nach meiner Deutung - dritter) "Kalter Krieg" statt oder: handelt es sich nur um eine mit der KSZE von 1975 beginnende Phase der Detente/Entspannung könnte sich inhaltlich bald erledigt haben, bleibt aber semantisch wichtig.
Neben den bereits genannten Aufsätzen trägt vor allem Nutis eigener Beitrag zur langfristigen, weit in die frühen 70er Jahre zurück reichenden, Entstehung des NATO-Doppelbeschlusses bei: dieser Modernisierungsbeschluss hatte nur nichts mit den neuen sowjetischen Raketen (SS-20) zu tun, sondern diese erleichterten den USA geradezu gegenüber den NATO-Verbündeten die Durchsetzung des bereits zuvor Wünschbaren. Gerade mit dieser Einsicht sind die zeitgenössischen Schuldzuweisungen (Abwehr sowjetische Hegemonie, wenn schon nicht konkreter Bedrohung versus westliches Dominanzstreben), die auch heutige Tagungen noch beherrschen, wohl auf dem besten Weg zur gelassenen Historisierung. Das ist kein geringes Ergebnis eines sehr gelungenen Bandes.
Anmerkung:
[1] Methodisch: Odd Arne Westad (ed.): Reviewing the Cold War. Approaches, Interpretations, Theory, London/Portland, OR 2000; Saki R. Dockrill / Geraint Hughes (eds.): Palgrave Advances in Cold War History, Basingstoke / New York 2006; inhaltlich: Andreas Wenger / Christian Nuenlist / Anna Locher (eds.): Transforming NATO in the Cold War. Challenges Beyond Deterrence in the 1960s, London / New York 2007 Wilfried Loth / George-Henri Soutou (eds.): The Making of Détente. Eastern and Western Europe in the Cold War, 1965-75, London / New York 2008 Poul Villaume / Odd Arne Westad (eds.): Perforating the Iron Curtain. European Détente, Transatlantic Relations, and the Cold War, 1965-1985. Carole Fink / Bernd Schaefer (Hgg.): Ostpolitik, 1969-1974. European and Global Responses. Cambridge University Press, Cambridge / New York etc. 2009, Kopenhagen 2010; Oliver Bange / Gottfried Niedhart (eds.): Helsinki 1975 and the Transformation of Europe, New York / Oxford 2008. Silvio Pons / Federico Romero (eds.): Reinterpreting the End of the Cold War. Issues, Interpretations, Periodizations, London / New York 2005
Leopoldo Nuti (ed.): The Crisis of Détente in Europe. From Helsinki to Gorbachev, 1975-1985 (= Cold War History; 23), London / New York: Routledge 2009, XVII + 285 S., ISBN 978-0-415-46051-4, GBP 80,00
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