sehepunkte 10 (2010), Nr. 5

Stefanie Michaela Baumann: Menschenversuche und Wiedergutmachung

Mit größerer Entfernung zu den Medizinverbrechen der NS-Diktatur wächst das Unverständnis über die zögerlichen, unzureichenden oder völlig ausgebliebenen Versuche nach 1945, den Opfern zu helfen. Wie mit ihnen nicht zuletzt vonseiten der Behörden der Bundesrepublik Deutschland umgegangen wurde, wird von jungen Geschichtsstudierenden häufig ebenso intensiv thematisiert wie die Frage nach den eigentlichen Verbrechen. Dabei ist es schwierig, aus der zahlreichen, aber entweder allgemeinen (Hans Günter Hockerts, Constantin Goschler) oder sehr speziellen und teilweise interessegeleiteten Literatur (Susanna-Sophia Spiliotis) ein dem Thema angemessenes Gesamtbild zu entwickeln. So war es ein Desiderat, aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive zu diesem Komplex eine fundierte Darstellung zu verfassen, die vom Nürnberger Ärzteprozess 1946/47 bis zur Arbeit der 2000 gegründeten "Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" reicht. Stefanie Michaela Baumann hat mit ihrer bei Hans Günter Hockerts in München entstandenen Dissertation diese Lücke geschlossen.

Mit semantisch-moralischen Fragen mag sich Baumann nicht intensiv befassen. Hinsichtlich des von ihr ohne distanzierende Satzzeichen benutzten Begriffs "Wiedergutmachung" meint sie, "dass wir auf diesen längst eingeführten Fachterminus angewiesen sind, da Begriffe wie Entschädigung oder Rückerstattung eher im juristischen Kontext verwendet werden." (15) Auch Baumann weiß, wie wenig die Qualen medizinischer Verbrechen "wiedergutzumachen" oder zu "entschädigen" sind. Im Vordergrund des Interesses stehen für sie jedoch die den heutigen Betrachter immer wieder fassungslos machenden Reaktionen der deutschen Verwaltung auf Anträge, erlittenes Unrecht anzuerkennen. Dabei will sie dem Eindruck entgegenwirken, die Geschichte der "Wiedergutmachung" sei eine einzige "chronique scandaleuse", die einem "Kleinkrieg gegen die Opfer" (Christian Pross) gleichkomme (14). Um es vorwegzunehmen: Der Autorin gelingt es, die Handlungsabläufe und die Mentalitäten innerhalb der agierenden Behörden zu veranschaulichen, am Gesamteindruck einer misslungenen Politik gegenüber den von NS-Medizinverbrechen Betroffenen ändert das nichts.

Viele Opfer der NS-Medizinverbrechen hätten materielle Hilfe angesichts des erlittenen psychischen und physischen, oft die Erwerbsmöglichkeiten mindernden Leids gut gebrauchen können, doch einer Großzahl von ihnen war eine erkennbare Aufrichtigkeit im Handeln der Rechtsnachfolger ihrer früheren Peiniger mindestens ebenso wichtig. Ein Beschluss der Bundesregierung von 1951 erkannte zwar die moralische Verpflichtung an, auch im Ausland lebenden Opfern "von Menschenversuchen" eine "wirksame Hilfe zuteil werden zu lassen", beschränkte sie jedoch zugleich auf besondere Notfälle (57). Die Opfer wurden zu Antragstellern, die "ex caritate" im Einzelfall Zahlungen erhielten, über deren Höhe das Bundesfinanzministerium in eigenem Ermessen entschied (59). Wie dieses Verfahren auf Betroffene wirken konnte, macht Baumann durch ein Zitat aus dem Brief einer Niederländerin deutlich, die bei Sterilisierungsexperimenten im KZ Auschwitz misshandelt worden war. Sie schrieb 1952 an das Bonner Finanzministerium: "Wir hatten eine 'Geste' erwartet, ein Schmerzensgeld für das große körperliche und moralische Leid, das Ihre vorige Regierung uns angetan hat. Vielleicht hätten Sie dann in den Augen der Welt eine Haltung gefunden, von der man hätte sagen können: Schaut, die neue Regierung begreift es wenigstens und versucht zu mildern, was ihre Vorgänger sträflich angerichtet haben - keine Gunst, sondern schlichtweg eine Tat." (9)

Opfer, die in Osteuropa lebten, erfuhren bis 1960 keinerlei Hilfe durch die Bundesrepublik Deutschland. Das Angebot der Vereinten Nationen, das Problem der nicht bestehenden diplomatischen Beziehungen zu umgehen, wurde ausgeschlagen. Mochten für dieses Verhalten die Ursachen in der internationalen Politik gelegen haben, so verlangt die generell zögerliche Behandlung von Anträgen auf materielle Hilfen nach anderen Erklärungen. Baumann erinnert in diesem Zusammenhang an die "asymmetrische Beziehung zwischen den Opfern und denen, die ihr Schicksal zu verwalten hatten." (190) Den einen ging es um Gerechtigkeit und würdevollen Umgang, die anderen operierten "in einem bürokratischen System", in dem eine "Würdigung der Opfer" nicht vorgesehen war, erst recht keine "seelsorgerische Betreuung von zerbrochenen Menschen." (190) Darüber hinaus waren viele Sachbearbeiter mit der moralischen Dimension ihrer Arbeit schlichtweg überfordert. Das notwendige historische Wissen hätte zwar in den meisten Fällen bereits abgerufen werden können, doch war der "diskursive und erinnerungspolitische Rahmen" noch nicht hergestellt (190).

Das Problembewusstsein war nicht nur in Politik und Verwaltung schwach ausgeprägt, auf breiter Linie versagten auch die medizinischen Gutachter, die - dem Stand der Wissenschaft oft hinterherhinkend - insbesondere die psychischen Folgen vernachlässigten. Vor allem in den fünfziger Jahren wirkte eine Grundsatzentscheidung des Reichsversicherungsamts von 1926 nach, der zufolge Neurosen nicht rentenpflichtig seien. Viele Wissenschaftler stellten die NS-Opfer in eine Reihe mit den zu "Kriegszitterern" stigmatisierten Soldaten, deren im Ersten Weltkrieg erlittene Neurosen noch immer eher mit "Feigheit vor dem Feind" und einem Erbetteln von Renten assoziiert wurden als mit einer behandlungsbedürftigen Erkrankung (93). Baumann sieht "die ignorante Haltung der deutschen Mediziner gegenüber den Leiden der Verfolgten" gestützt durch die deutsche Rechtsprechung (95). Sie folgte beispielsweise bei Differenzen zwischen im Ausland und in Deutschland erstellten medizinischen Gutachten den in der Regel methodisch unzulänglichen und für die Betroffenen ungünstigeren deutschen, nicht selten selbst durch die NS-Geschichte belasteten Sachverständigen. Dies bedeutete in der Konsequenz, dass selbst die überlebenden Opfer der Zwillingsversuche von Josef Mengele in Auschwitz erst Mitte der achtziger Jahre auf Zahlungen rechnen konnten.

Die Zumutungen für die Opfer reichen bis nahe an die Gegenwart. Baumanns Buch schließt mit einer Würdigung der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft", die zwar finanzielle Hilfe nicht mehr von - oft kaum zu erbringenden - harten Beweisen für erlittenes Unrecht abhängig machte, sondern dem Prinzip der "Glaubhaftmachung" folgte. Wer aber die Leistungen in Anspruch nehmen wollte, musste einem Verzicht auf weitergehende Ansprüche zustimmen. Zyniker sprachen von der "Endlösung der Entschädigungsfrage", moderate Beobachter von einer "unvollkommenen Gerechtigkeit." (187)

Stefanie Michaela Baumanns empfehlenswerte und ausgezeichnet lesbare Studie basiert nicht zuletzt auf der Auswertung wichtiger unveröffentlichter Quellen aus den Akten von Bundesfinanzministerium, Bundeskanzleramt und Auswärtigem Amt, sodass sie vieles bisher lediglich Vermutete eindeutig belegen kann. Nur eingeschränkt hilfreich ist das Personenregister, das im Text erwähnte Autoren unberücksichtigt lässt und somit wichtige Diskursbeteiligte wie Stuart Eizenstat ausschließt.

Rezension über:

Stefanie Michaela Baumann: Menschenversuche und Wiedergutmachung. Der lange Streit um Entschädigung und Anerkennung der Opfer nationalsozialistischer Humanexperimente (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte; Bd. 98), München: Oldenbourg 2009, 217 S., ISBN 978-3-486-58951-1, EUR 24,80

Rezension von:
Ralf Forsbach
Bonn
Empfohlene Zitierweise:
Ralf Forsbach: Rezension von: Stefanie Michaela Baumann: Menschenversuche und Wiedergutmachung. Der lange Streit um Entschädigung und Anerkennung der Opfer nationalsozialistischer Humanexperimente, München: Oldenbourg 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 5 [15.05.2010], URL: https://www.sehepunkte.de/2010/05/16210.html


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