Die hier zu besprechende Monographie von Gregor Schoeler ist eine um einige Seiten erweiterte Fassung seines französischen Buches "Écrire et transmettre dans les débuts de l'islam" (Paris 2002). Shawkat M. Toorawa hat die dankbare Aufgabe übernommen Schoelers Werk ins Englische zu übersetzen. Inhaltlich fasst diese Monographie mehrere frühere Publikationen Schoelers zusammen und gibt so einen umfassenden Überblick über seine Forschung zu der Frage, in welcher Beziehung schriftliche Materialien und mündliche Elemente bei der Überlieferung von Wissen in den ersten drei islamischen Jahrhunderten (7.-10. Jahrhundert) standen. Dieses Verhältnis war nicht immer leicht zu entschlüsseln. Weil die Kenntnis um dieses Verhältnis für das Verständnis der frühislamischen Wissenstradierung zentral ist und weil Schoeler mit diesem Buch eine konsistente und überzeugende Erklärung anbietet, werde ich Schoelers Gedanken in dieser Rezension mehr Raum als üblich geben.
Schoeler geht von drei Prämissen aus (1): 1. Literatur bezeichnet ein Corpus von abschließend redigierten und veröffentlichten Werken, die in einer Sprache verfasst wurden oder mit einem Volk assoziiert werden. 2. Abschließend redigiert heißt, dass der Textbestand dieser Werke von einem Autor festgesetzt und herausgegeben wurde. Typische Merkmale eines solchen Textes sind eine kohärente Struktur, oft auch ein Vorwort oder Querverweise innerhalb des Werkes. 3. Veröffentlicht heißt, dass der Verfasser dieses Werk mit einer bestimmten "öffentlichen Leserschaft" im Kopf verfasste. Diese Leserschaft kann sich auch nur aus verschiedenen Teilgruppen der Gesellschaft, wie z. B. Intellektuellen, Literaten, Fürsten oder Gelehrten, zusammensetzen.
Mittels dieser beiden Koordinaten (mehr oder weniger festgesetzter Textbestand bzw. Leserschaft) zeichnet Schoeler die Entstehung der arabischen Literatur nach. Dabei geht er auf die wichtigsten Bereiche dieser Literatur besonders ein: Dichtung, religiöse Literatur ( ḥadīṯ, tafsīr), historische Literatur (z.B. sīra), sprachwissenschaftliche Literatur und "schöne" Literatur (adab).
Er formuliert folgende beiden Hauptthesen (123): 1. Die Lehre und Überlieferung von Wissen in den verschiedenen Disziplinen der islamischen Gelehrsamkeit ist in den ersten drei Jahrhunderten geprägt von einem gleichzeitigen Nebeneinander mündlicher Wiedergabe und dieser zugrunde liegender schriftlicher Texte.
2. Im Laufe der Zeit verschob sich das Verhältnis von mündlicher Wiedergabe immer mehr hin zum Gebrauch von Büchern als Grundlage für die Wissensvermittlung.
Seine beiden Thesen kann Schoeler an zahllosen Beispielen, die er den islamischen biographischen bzw. literarischen Quellen aus späteren Jahrhunderten entnommen hat, überzeugend belegen. Im Umgang mit diesen Quellen folgt Schoeler einer bestimmten Methode: Er stützt sich darauf, dass, selbst wenn einzelne Beispielüberlieferungen verändert, gefälscht oder gar vollständig erfunden sein können, die Gesamtheit aller Überlieferungen zumindest das Grundgerüst der Ereignisse und Praktiken korrekt wiedergeben (11). So gibt er als Beispiel die 'uṯmānische Koranredaktion an, von der zwar in vielen unterschiedlichen Überlieferungen berichtet wird, in welchen aber ausnahmslos der dritte Kalif 'Uṯmān b. 'Affān als Urheber dieser redaktionellen Tätigkeit aufgeführt wird, so dass an der Tatsache selbst und an 'Uṯmāns Rolle dabei kaum Zweifel aufkommen können.
In acht Kapiteln zeichnet Schoeler auf dieser methodischen Grundlage die Entwicklung von Mündlichkeit hin zu Schriftlichkeit nach.
Schon in vorislamischer Zeit gab es nach islamischer Überlieferung Schriftstücke (meist Vertragsdokumente), die für die Mitglieder einer bestimmten Zielgruppe verfasst und durch öffentliche Ausstellung beispielsweise in der Ka'ba "veröffentlicht" wurden. Dichtung wurde in frühislamischer Zeit zwar mündlich veröffentlicht, doch besaßen viele Dichter Notizbücher, die ihnen als Merkhilfen (hypomnemata) dienten und in denen die Gedichte verzeichnet waren. Derartige private Merkhilfen (aides-mémoire) sind seit dem ersten Viertel des 8. Jahrhundert belegt (22). Sie wurden in der Dichtung - und auch in anderen Wissensbereichen - von Schülern vorgelesen und vom jeweiligen Verfasser verbessert (qirā'a) oder sie wurden den Schülern diktiert (samā', imlā'). Die Schriften, die der Schüler dann besaß, waren keine abgeschlossenen Bücher, sondern nur für den Privatgebrauch bestimmte Notizbücher oder Kolleghefte ("lecture notes") (Kap. 1). Für diese hier beschriebene Form der Überlieferung von Wissen, die sich durch den gemeinsamen Gebrauch mündlicher und schriftlicher Elemente auszeichnet, benutzt Schoeler den Begriff "gehörte (aurale) Überlieferung ('aural/audited transmission')" (23; Definition von aural: 37).
Das erste abgeschlossene für einen Leserkreis bestimmte Buch (syngramma) war der Koran; er wurde in ganz früher Zeit ebenfalls durch öffentliche Ausstellung von Musterexemplaren "veröffentlicht". Im Zusammenhang mit der Rezitation und Lehrüberlieferung des Korans benutzten die frühen Koranleser (qurrā') private Aufzeichnungen als Merkhilfen, in denen sie zum Beispiel Vokalisierungen des Korantextes aufführten und die sie dann in Lehrzirkeln aural überlieferten (Kap. 2).
Ungefähr im dritten Viertel des 7. Jahrhundert begannen andere Gelehrte, insbesondere 'Urwa ibn az-Zubair, Nachrichten mit historischem, rechtlichem oder exegetischem Inhalt zu sammeln und schriftlich aufzuzeichnen. Veröffentlichten diese Gelehrte Texte, taten sie das in Form von Episteln (rasā'il) zu einem bestimmten Thema. Deren Schüler der nächsten Gelehrtengeneration, u.a. az-Zuhrī, veröffentlichten in der ersten Hälfte des 8. Jahrhundert als erste ihre Aufzeichnungen auf Nachfrage des Kalifenhofes mit dem Ziel Mitglieder des Hofes als Leser anzusprechen (Kap. 3).
Diese regelrechten Bücher und Schriften sind allerdings - mit Ausnahme der Episteln 'Urwas - nicht erhalten geblieben, da sie nur in kleiner Zahl für die kalifale Bibliothek angefertigt wurden. Zu den bekanntesten im Auftrag des Hofes entstandenen Bücher, die den Notizbüchern des auralen Überlieferungswesens entstammten, gehört das Kitāb maġāzī, das Ibn Isḥāq verfasst hat. Etwa zu gleichen Zeit wurden von persisch-stämmigen Staatsbediensteten (kuttāb) Prosawerke verfasst und/oder ins Arabische übersetzt. Diese abschließend redigierten und für den Hof als Leser bestimmten Werke, waren ebenfalls regelrechte Bücher (syngrammata). Wichtig ist, dass all diese um die Mitte des 8. Jahrhundert entstandenen Bücher nur einem kleinen Leserkreis, nämlich dem kalifalen Hof und den Sekretären, vorbehalten waren (Kap. 4).
Parallel zu dieser Entwicklung wurde Wissen in den Gelehrtenzirkeln weiterhin aural überliefert. Dies geschah allerdings immer systematischer, bis in der Mitte des 8. Jahrhundert Wissen bzw. Nachrichten innerhalb eines Werkes thematisch in Einzelkapiteln angeordnet wurden (tasnīf). In allen Wissensbereichen (Geschichte, Recht, Theologie, Exegese, ḥadīṯ ) entstanden so geordnete musannaf-Werke, die durch aurale Überlieferung veröffentlicht wurden und deren Verbreitung nicht über den Schülerkreis hinaus ging. Dass diese Art der Veröffentlichung den Textbestand nicht verlust- und veränderungsfrei sichern konnte, ist leicht vorstellbar. So sind uns auch viele der musannaf-Werke aus dem 8. Jahrhundert nur in späteren und divergierenden Rezensionen erhalten geblieben. Aus diesem Grund argumentiert Schoeler, dass es sich bei den musannaf-Werken nicht um regelrechte Bücher (syngrammata) handelt, auch wenn sie gelegentlich Merkmale derselben aufweisen, (81) sondern um eine eigene Literaturgattung, die einen Zwischenstatus zwischen den zur Merkhilfe bestimmten Notizbüchern und den syngrammata einnimmt. Schoeler bedient sich zur Beschreibung dieser Gattung des von W. Jaeger geprägten Begriffes der zum Vortrag bestimmten "Literatur der Schule für die Schule " (76) (Kap. 5).
Gegen Ende des 8. und Anfang des 9. Jahrhundert entstanden dann die ersten syngrammata innerhalb des Lehrbetriebes. Sībawaihs (gestorben ca. 180/798) Kitāb eine systematische Darstellung der arabischen Grammatik, welche von ihm selbst zusammengestellt worden ist, verfügt vermutlich über einen bewusst gewählten Titel, spricht den Leser an und enthält Querverweise. Zudem war es an eine breite Leserschaft gerichtet (87f.). Es wurde von Sībawaih auch nicht aural überliefert, sondern einer seiner Schüler besass ein Exemplar, das er mit seinen Kommentaren versehen durch Vortragen (qirā'a) weitergab. Solche abgeschlossenen (Hand-) Bücher wurden auch von Abū 'Ubaid al-Qāsim b. Sallām (gestorben 224/838) auf den Gebieten der Lexikographie und des ḥadīṯ verfasst.[1] Seine Bücher sind zwar durch den "Impetus des Hofes" entstanden (oder zumindest in engem Kontakt mit dem Hof) (95), doch erfreuten sie sich auch unter Gelehrten als Leserschaft großer Beliebtheit. Deswegen wurden sie auch im Lehrbetrieb mit festem Textbestand durch Vorlesen (qirā'a) weitergegeben (Kap. 6).
In der zweiten Hälfte des 9. Jahrhundert entstanden in der Folge immer mehr Bücher (syngrammata). In der Tradition der Episteln und übersetzten Bücher der kuttāb aus der Mitte des 8. Jahrhunderts und den Handbüchern aus der Wende vom 8. zum 9. Jahrhundert schrieb vor allem al-Ǧāḥiẓ (gestorben 255/868) unter Zuhilfenahme berufsmäßiger Schreiber zahlreiche Bücher zu den unterschiedlichsten Themen. Seine Leser waren neben den Angehörigen des Hofes, die Staatsbediensteten (kuttāb), die Gebildeten (udabā') und eine Gruppe "normaler" Menschen, die des Lesens mächtig waren (104) (Kap. 7).
Dieser Prozess der Wende von der auralen Kultur hin zur buchbasierten Kultur fand im 9. Jahrhundert nicht nur im Bereich der "schönen" Literatur (adab) statt, sondern auch auf den Gebieten der Geschichtsschreibung (Ibn Hišām, aṭ-Ṭabarī), der Literaturgeschichte (Abū 'l-Faraǧ al-Iṣfahānī) und der Redaktion von Gedichtsammlungen (Dīwānen), wohingegen die meisten Bücher im ḥadīṯ -Wesen, etwa der Ṣaḥīḥ von al-Buḫārī, "Literatur der Schule für die Schule" blieben. Dennoch war der Prozess nicht mehr umkehrbar und ab dem 10. Jahrhundert spielte die aurale Überlieferung eine immer geringere Rolle. Bücher wurden mehr und mehr von schriftlichen Vorlagen kopiert, auch wenn der Anspruch, insbesondere ḥadīṯ-Werke zu hören, noch lange bestehen blieb (Kap. 8).
Zusammenfassend bleibt zu sagen, dass Gregor Schoeler mit dieser Monographie dem Leser viele Bereiche der islamischen Wissenschaften unter den Aspekten des Gebrauchs von Mündlichkeit und Schriftlichkeit näher bringt, sowie breite Einblicke in die damit zusammenhängende Sekundärliteratur gewährt. Es gelingt ihm darüber hinaus zahlreiche und weit verstreute Angaben in den Quellen, die zum Beispiel besagen, dass Person X ein "Buch" verfasst hat oder dass Person Y immer aus dem Gedächtnis vortrug, zu einem kohärenten System zusammenzuführen, das allein schon Anerkennung verdient. Mir erscheint Schoelers Erklärung über die Entwicklung von der Mündlichkeit, über eine Phase der Koexistenz von Mündlichkeit und Schriftlichkeit bis hin zum dominierenden Gebrauch von Schriftlichkeit in der islamischen Kultur bzw. im islamischen Kollegbetrieb als äußerst überzeugend. Damit gehört diese Monographie zu den Standardwerken, die jeder lesen sollte, der sich mit Bildung und Überlieferung von Wissen in der klassischen Zeit des Islam beschäftigt.
Anmerkung:
[1] Zu Abū 'Ubaids ḥadīṯ-Handbuch siehe meinen Aufsatz "Steuern und Gelehrsamkeit in der frühen 'Abbāsidenzeit. Das Kitāb al-amwāl des Abū 'Ubaid al-Qāsim b. Sallām", der in der Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (ZDMG) Bd. 162 (2012) erscheint.
Gregor Schoeler: The Genesis of Literatur in Islam. From the aural to the read (= The New Edinburgh Islamic Surveys), Edinburgh: Edinburgh University Press 2009, VIII + 152 S., ISBN 978-0-7486-2468-3, GBP 17,99
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