Die Ständige Vertretung (StäV) der Bundesrepublik bei der DDR war in einem schlichten Zweckbau in der Hannoverschen Straße in Ost-Berlin untergebracht - ein Gebäude, das die Ost-Berliner wegen seines regelmäßig erneuerten weißen Farbanstrichs "weißes Haus" nannten. Für ausreisewillige Ostdeutsche, politische Häftlinge in der DDR und für westdeutsche Journalisten wurde es zwischen 1974 und 1989 zu einer zentralen Anlaufstelle. Für die Bundesregierung war es die offizielle Verbindungsstelle zur DDR-Regierung und eine wichtige Quelle für Nachrichten über den östlichen deutschen Teilstaat, den man zwar staatsrechtlich, nicht aber völkerrechtlich anerkannt hatte.
Sich der Geschichte dieser Vertretung zu widmen, ist daher eine lohnende Aufgabe, der sich die Journalistin Jacqueline Boysen in der vorliegenden Untersuchung - gleichzeitig ihre von der Universität Rostock angenommene Dissertation - angenommen hat. Ihre leitenden Fragen lauten: Inwieweit hat die StäV die DDR stabilisiert? Inwieweit hat sie humanitäre Erleichterungen bewirkt? Und welche Rolle spielte sie beim Einigungsprozess? Die Relevanz dieser Fragen ist unterschiedlich: Während die erste zweifellos von Bedeutung ist und insbesondere vom letzten "Ständigen Vertreter" reflektiert wurde, lässt sich die zweite nur schwer und die dritte sehr knapp beantworten: Im Verlauf des Einigungsprozesses wurde die StäV völlig marginalisiert. Die Leitfragen werden zwar im Verlauf der Darstellung immer wieder aufgegriffen, ohne allerdings das Werk zu strukturieren, das eher den Eindruck einer Aneinanderreihung von durchaus interessanten Einzelaspekten, nicht aber den einer planvollen, logisch argumentierenden Studie erweckt. Zwei Kapitel zu Vorgeschichte und Anfängen sowie ein letztes zur Abwicklung der StäV 1989/90 bilden den Rahmen; die thematischen Abschnitte dazwischen widmen sich dem Arbeitsalltag, der Beobachtung durch das MfS, der Beziehung zu den Westjournalisten sowie den vier Leitern.
Boysens Grundlage sind die Akten des Bundeskanzleramts, an das die StäV organisatorisch angebunden war, Archivalien der BStU, des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts sowie zahlreiche Zeitzeugenbefragungen. Die einschlägigen Akteneditionen - die Dokumente zur Deutschlandpolitik und die Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland - wurden leider nur punktuell herangezogen; oft werden Dokumente, die schon seit geraumer Zeit gedruckt vorliegen, nach dem Archiv zitiert.
Die Vorgeschichte wird im Allgemeinen zutreffend geschildert, wenngleich die Vorgänge nicht völlig unbekannt sind. Bisweilen erscheint es, als würde die Rolle der Sowjetunion dabei unterschätzt, denn neben Honecker machte auch die sowjetische Führung ihren Einfluss geltend. So intervenierte die Sowjetunion am 13. Juni 1973 und bewirkte, dass die der Errichtung der StäV vorangehenden Verhandlungen für längere Zeit unterbrochen wurden - ein seit einigen Jahren bekannter Eingriff, den Boysen leider nicht erwähnt. Neuland betritt sie hingegen mit den Ausführungen zu Aufbau und personeller Besetzung der StäV 1974. In der ersten Zeit wurden deren Mitarbeiter nicht nur aus dem Bonner Regierungsapparat nach Ost-Berlin versetzt, sondern auch per Zeitungsannonce rekrutiert. Boysen zufolge handelte es sich mehrheitlich um Personen, die der DDR anfangs eher wohlgesinnt waren und diese "an ihren eigenen Maßstäben [...] messen" wollten (89). Doch aus diesen "Idealisten" wurden oft am Ende ihrer Ost-Berliner Zeit Realisten; in den 1980er Jahren nahmen die Mitarbeiter zu, die "frei von Illusionen über den Realsozialismus" waren (90).
Ausführlich schildert Boysen den Arbeitsalltag der StäV-Mitarbeiter, die sich vor allem um Ausreisewillige kümmerten, politische Häftlinge in der DDR betreuten und Kontakte zu ausgewählten Ostdeutschen pflegten. Breiten Raum nehmen dabei auch die Besetzungen der StäV durch DDR-Bürger ein, die ihre Ausreise erzwingen wollten. Anfangs gelangten diese relativ rasch und unkompliziert - unter Einschaltung von Rechtsanwalt Vogel - an ihr Ziel. Als eine Reihe von DDR-Bürgern, die 1984 die US-Botschaft besetzt hatten und dann mit Hilfe der StäV ausgereist waren, darüber in den Westmedien berichteten, wurde dies zu einem Präzedenzfall, der so viele Ostdeutsche zur Nachahmung animierte, dass die Vertretung im Sommer 1984 für mehrere Wochen geschlossen werden musste.
Die Observierung der StäV durch das MfS wird ebenfalls aufgrund der zugänglichen Akten breit geschildert. Die Stasi hatte keinen Zweifel, dass diese einen Außenposten des BND beherberge, was freilich nicht den Tatsachen entsprach. Obwohl der ostdeutsche Geheimdienst über die Gespräche ostdeutscher Funktionäre mit den westdeutschen Vertretern informiert war, einzelne IM in der StäV platzieren konnte, mithilfe von anderen Mitarbeitern Bedienstete der StäV abschöpfte und das Gebäude dauerhaft observierte, ließ sich der Spionagevorwurf nicht erhärten. Außerdem konnte auch die SED-Führung "keinen Vorteil aus konspirativ zusammengezogenen Informationen aus dem Umfeld der Westvertretung ziehen" (218).
Für die westdeutschen Korrespondenten bildete die StäV eine Meinungsbörse, wo sie Informationen erhielten, an die sie sonst kaum herangekommen wären. Überdies waren sie auf die Vertretung angewiesen, die ihre Belange unter Berufung auf den Grundlagenvertrag gegenüber der DDR vertrat. Insgesamt war das Verhältnis zwischen StäV und Journalisten freilich ambivalent: Einerseits verteidigten die westdeutschen Vertreter aus der Hannoverschen Straße die vertraglich zugesicherte freie Berichterstattung, andererseits sorgten sie sich um das deutsch-deutsche Verhältnis und fürchteten dessen Beeinträchtigung durch einseitige Maßnahmen der DDR, sodass sie stets darauf drängten, dass sich die Kritik an der DDR in Grenzen hielt: "Nur wenn wir die DDR nicht verteufeln", so das Motto von Günter Gaus, "können wir sinnvolle Kontakte aufbauen." (234) Ein fatales Dilemma, das in Einzelfällen sicher zur Verharmlosung der Berichterstattung über die DDR beigetragen hat!
Das am besten gelungene Kapitel behandelt die vier Leiter der StäV in ihrem Verhältnis zur DDR. Der interessanteste unter ihnen war sicher der 1974 ernannte Günter Gaus, der sich freilich in seinem Selbstverständnis als Verwalter der Deutschlandpolitik Brandts in Ost-Berlin immer mehr auf die DDR-Führung einließ. Er pflegte zwar Kontakte zu Künstlern, Wissenschaftlern, Schauspielern und führenden Männern und Frauen der evangelischen Kirche, ließ sich aber auch von Honecker zur Hasenjagd einladen. Überdies war sein Verhältnis zu Bundeskanzler Schmidt gespannt, da dieser sich die Gestaltung der Deutschlandpolitik nicht von dem "Ständigen Vertreter" aus der Hand nehmen lassen wollte. Sein Nachfolger im Februar 1981, der Schmidt-Vertraute Klaus Bölling, hätte nicht unterschiedlicher sein können: Das ehemalige, kurzzeitige SED-Mitglied, der 1947 aus der Partei ausgetreten war, hatte sich zum scharfzüngigen Kritiker der SED-Diktatur entwickelt, der die Funktionäre verunsicherte und sich vehement für die Belange der Bundesrepublik in der DDR einsetzte. Er manövrierte die StäV wieder auf die Linie von Helmut Schmidt, musste aber bereits im Frühjahr 1982 zurück nach Bonn, um dem in innenpolitische Bedrängnis geratenen Bundeskanzler beizuspringen. Sein Nachfolger wurde der Berufsdiplomat Hans-Otto Bräutigam, der bereits von 1974 bis 1977 als zweiter Mann an der StäV gedient hatte. Er wird zutreffend dargestellt als überzeugter, aber zurückhaltender Vertreter der "Neuen Ostpolitik". Sein ostdeutsches Pendant in Bonn, Ewald Moldt, berichtete nach Ost-Berlin, Bräutigam stelle "revanchistische innerdeutsche Konzeptionen nicht in den Vordergrund, vertritt sie aber auftragsgemäß" (272). Ein Schlaglicht auf seine Überzeugungen wirft jedoch der ehemalige FAZ-Journalist Karl Feldmeyer, der Bräutigam mit den an ihn gerichteten Worten zitiert: "Auch Sie werden Ihren Glauben an die Wiedervereinigung aufgeben!" (225) Den Weg zur Wiedervereinigung begleitete schließlich seit Anfang 1989 Franz Bertele, CDU-Mitglied und Berufsdiplomat, der offenere Töne gegenüber der DDR-Führung anschlug als seine Vorgänger und auch in den Honecker-Nachfolger Krenz keine Hoffnung setzte. Aufgrund der Komposition des Bandes überschneiden sich die Passagen zu Bertele und zur Abwicklung der StäV leider erheblich.
In einem knappen Fazit wird die StäV als "fleißige deutsch-deutsche Sachbearbeiterin" gewürdigt, deren Verdienst "in ihrer Arbeit für die Bürger" bestand (302). Ein wesentlicher Aspekt kommt leider viel zu kurz: Die Berichterstattung der Vertretung über die DDR zwischen 1974 und 1989. Gerade hier wäre jedoch wirkliches Neuland zu betreten gewesen: Was wusste man in der Vertretung über die inneren Verhältnisse des ostdeutschen Staates? Wie wurde die Lage dort eingeschätzt? Welchen Einfluss hatten die politischen Vorgaben und persönlichen Einstellungen der Berichterstatter auf Inhalte und Lagebeurteilungen? Wie wandelte sich das von der StäV gezeichnete Bild der DDR im Verlauf der Zeit? Mit Boysens interessantem Buch über die Ständige Vertretung ist noch lange nicht alles über dieses spannende Thema gesagt.
Jacqueline Boysen: Das "weiße Haus" in Ost-Berlin. Die ständige Vertretung der Bundesrepublik bei der DDR (= Forschungen zur DDR-Gesellschaft), Berlin: Ch. Links Verlag 2010, 336 S., ISBN 978-3-86153-556-0, EUR 29,90
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