Wissenschaftliche Untersuchungen zu den Bezirken der DDR stellen auch 20 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung noch immer ein Desiderat der Forschung dar. Zu komplex ist dieser Gegenstand, als dass sich die Geschichte eines Bezirkes in seiner fast vierzigjährigen Existenz in seiner Gesamtheit zum jetzigen Zeitpunkt überblicken ließe. Auch wenn die Kenntnisse über Probleme und Entwicklungen der DDR auf gesamtstaatlicher Ebene inzwischen relativ fundiert sind, der Blick auf bezirkliche Spezifika ist häufig mehr als unscharf. Die bisher vorliegenden Untersuchungen setzten vor allem folgende Schwerpunkte: Die Gründung der Bezirke, die insgesamt wie die Geschehnisse um den 17. Juni 1953 am besten erforscht ist, ihre Auflösung und die Wiedergründung der neuen Bundesländer in einem vereinten Deutschland, die politische Machtverteilung, strukturgeschichtliche Fragen, soziale und wirtschaftliche Entwicklungen.
Der Autor, Historiker und früherer Archivar im Sächsischen Staatsarchiv Chemnitz sowie seit 1999 Leiter des Unternehmensarchivs des Zweiten Deutschen Fernsehens, hat einen interessanten Weg zur Erforschung der DDR-Bezirke gefunden, der neue Möglichkeiten bietet, zu wichtigen Forschungsergebnissen führt, aber von seinem Ansatz her letztlich auch an Grenzen stößt. Ergebnis seiner insgesamt zehnjährigen Forschungen ist eine umfangreiche, dickleibige Verwaltungsstudie (Dissertation) zum Rat des Bezirkes Chemnitz (seit 1953 Karl-Marx-Stadt). Dabei untersucht der Verfasser insbesondere die Struktur und Arbeitsweise dieses regionalen Staatsorgans sowie auch die Personalplanung. Die Studie dient freilich nicht nur der Erhellung bezirklicher Strukturen, sondern auch, wie Scheller betont, dem besseren Verständnis des Herrschaftssystems der DDR-Diktatur (22, 29).
Den zeitlichen Schwerpunkt der Untersuchung bilden nach einer anschaulichen Darstellung der Vorgeschichte sowie der politisch-ideologischen Grundlagen die Gründung des Bezirkes Chemnitz sowie die erste und zweite Legislaturperiode. Scheller beschreibt mit einer bestechenden Kenntnis der betreffenden normativen Grundlagen die Strukturveränderungen beim Rat des Bezirkes bis in die kleinste Organisationseinheit, den Wandel bei der Aufgabenverteilung der einzelnen Ratsmitglieder, Machtzuwachs und -abbau von Funktionen, die personelle Ausstattung des Verwaltungsapparates sowie Sparzwänge. Die Lektüre dieser zunächst ein wenig trocken anmutenden Materie wird nicht nur durch eine Fülle an Abbildungen bzw. Schaubildern erleichtert. Scheller bettet die strukturellen Änderungen in die betreffenden politischen Entwicklungen der DDR ein und berücksichtigt auch internationale Aspekte. Er fasst zum besseren Verständnis wichtige Abschnitte jeweils in einem Zwischenfazit zusammen. Dazu kommt noch offenkundig die Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge anschaulich darzustellen.
Die Untersuchung schließt zeitlich mit einem ausführlichen Kapitel zur Abwicklung der staatlichen Strukturen des Bezirkes Karl-Marx-Stadt (und der Bezirke Dresden und Leipzig) und mit dem Übergang zum neu gegründeten Freistaat Sachsen. Ein Schlusskapitel zur Personalpolitik bzw. Kadernomenklatur beim Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt hat den Charakter eines Überblicks sowie einer ersten Zusammenfassung aus vorherigen Kapiteln (vor dem nachfolgenden Gesamtfazit). Die Herausarbeitung eines soziologisch fundierten, kollektiven Porträts der Ratsmitglieder bleibt allerdings weiteren Studien vorbehalten.
Den zeitlich größten Abschnitt bildet das siebte Kapitel, das Scheller bescheiden als "kurzen Abriss" bezeichnet. Eigentlich verdiene es, wie er zu Recht betont, eine weitere, eigenständige Untersuchung. Auch wenn die Strukturveränderungen beim Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt in diesem gut 100-seitigen Kapitel, das von der Gründung des Wirtschaftsrates des Bezirkes (1958) bis zum Ende der 1980er Jahre reicht, nicht in der Detailtreue beschrieben werden wie die Entwicklung des Rates in den Hauptkapiteln zuvor, so ist die Informationsdichte, die Scheller liefert, dennoch sehr beeindruckend. Wichtiger noch ist die Tatsache, dass in diesem Kapitel in einem Längsschnitt von über dreißig Jahren insbesondere zwei zentrale Fragestellungen untersucht werden, die allerdings auch an anderer Stelle des Buches auftauchen: Wie musste der Rat des Bezirkes organisiert sein, um möglichst viel Fachkompetenz (auch aus der Bevölkerung) in seinen Reihen zu vereinen, um die Problemstellungen in der Region zu beherrschen? Welche Struktur des Bezirksrates war erforderlich, um zentrale Beschlüsse aus Berlin effektiv umzusetzen, und mussten sich daraus zur Lösung der Probleme vor Ort nicht auch Spielräume für Eigeninitiative und eigenständiges Handeln ergeben?
Politik vor Ort sollte durch eine breite Einbeziehung der Bevölkerung gestaltet werden, etwa durch die Abhaltung von Sprechstunden des Rates, deren Bedeutung im Laufe der Jahre allerdings abnahm, und durch das Eingabenwesen. Die enge Verbindung der regionalen Regierung zur Bevölkerung kam insbesondere durch das marxistisch-leninistische Rätemodell zum Ausdruck. In den ersten Räten waren daher ehrenamtliche Ratsmitglieder aus der Bevölkerung vertreten. Dieser Anteil an ehrenamtlich tätigen Personen wurde jedoch im Zuge einer Professionalisierung immer weiter zurückgedrängt und in der Ära Honecker waren im Rat ausschließlich hauptamtliche Funktionäre vertreten, die aus der Verwaltung kamen und dort ausgebildet worden waren.
Maßgeblich waren zwar stets die Vorgaben der zentralen Partei- und Staatsorgane. Die Entwicklung des Staatsaufbaus wurde dabei einerseits geprägt von einer häufig zunehmenden Zentralisierung, andererseits jedoch von einer teilweise "begrenzten und kontrollierten Dezentralisierung" (so Detlef Kotsch) im Wirtschaftsbereich gegen Ende der 1950er Jahre und besonders in der ersten Hälfte der 1960er Jahre mit einer Übertragung von Kompetenzen an regionale staatliche Instanzen sowie an die Leitungen von Industriebetrieben (Produktionsprinzip). Letztlich galt jedoch der Primat der Politik, der Vorrang der zentralen Machtorgane.
Dass der Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt trotz der insgesamt herausragenden Stellung des Ratsvorsitzenden kaum wirkliche Gestaltungsmöglichkeiten besessen habe und auch die Funktionäre von ihrer Ausbildung und Auswahl her dazu nicht in der Lage gewesen seien, scheint im Grundsatz ein plausibles Ergebnis, das aus der Analyse rein normativer Grundlagen entwickelt wurde. Dieses Ergebnis offenbart aber auch die Grenzen einer reinen Verwaltungsstudie, denn die Praxis war doch wohl um einiges komplexer und komplizierter. Der Erwartungsdruck, der auf Spitzenfunktionären lastete, eigener Machtdünkel, aber auch der wachsende Problemstau des Alltags schufen nicht zuletzt in den 1980er Jahren auch Handlungsspielräume, die von den zentralen Machtorganen durchaus toleriert wurden, und neue Formen der Zusammenarbeit, auch durch die Gründung neuer Gremien parallel zu den staatlichen Organen (Interessengemeinschaften Territoriale Rationalisierung). Entscheidend waren darüber hinaus persönliche Vernetzungen von Funktionären der mittleren Hierarchieebene, enge Kontakte zu Bündnispartnern in Berlin oder im regionalen Parteiapparat oder aus der Wirtschaft. Die reale regionale Herrschaftspraxis im DDR-Sozialismus wird in der Studie von Scheller insgesamt wenig berührt, sie hätte auch den Rahmen einer Verwaltungsstudie gesprengt und setzt weitere Einzeluntersuchungen voraus. Nahegelegen hätte zudem ein kurzer Vergleich oder wenigstens eine Bezugnahme zur in Ansätzen bereits erforschten strukturellen Entwicklung der SED in der Region sowie zur Kaderpolitik des betreffenden Führungspersonals.
Diese Einschränkungen trüben den Gesamteindruck des Bandes nicht wesentlich. Durch die detaillierte Herausarbeitung der Strukturen und Aufgabenbereiche, der Sitzungstermine, behandelten Themen etc. des Rates des Bezirkes Chemnitz/Karl-Marx-Stadt in Form von Abbildungen und durch einen umfangreichen Anhang erhält der Forscher präzise Auskunft, welche Organisationseinheit bzw. welches Schriftgut oder welche Ratssitzungen für ihn bei der Bearbeitung eines Forschungsthemas von Interesse sind. Der Band liefert folglich Ergebnisse zur Funktionsweise der DDR-Diktatur, hat aber darüber hinaus auch den Charakter eines unverzichtbaren Handbuches und Nachschlagewerkes.
Veit Scheller: Die regionale Staatsmacht. Der Rat des Bezirkes Chemnitz/Karl-Marx-Stadt 1952-1990. Eine Verwaltungsstudie (= Veröffentlichungen des Sächsischen Staatsarchivs. Reihe A: Archivverzeichnisse, Editionen und Fachbeiträge; Bd. 12), Halle/Saale: mdv Mitteldeutscher Verlag 2009, 628 S., ISBN 978-3-89812-635-9, EUR 60,00
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